Und schon zehn Stunden später sitze ich zuhause und habe endlich Feierabend. Das heißt, mein Körper hat Feierabend, sitzt im Wintergarten, hört mit halbem Ohr auf das Knattern der spanischen Paprika in der Bratpfanne nebenan und schenkt sich vielleicht gleich mal ein kleines Glas Rotwein ein, vielleicht aber auch nicht. Mein Kopf dagegen läuft immer noch auf Hochtouren. Ich bin ziemlich durcheinander. Und ich kann noch nicht mal sagen, wieso, ob sich der Sturm bis irgendwann beruhigt, ob das jetzt etwas Grundsätzliches ist, ob das allen so geht, die in meiner Lage sind, ob das so beabsichtigt war und überhaupt.
Gestern war unser zweiter Abend in der betreuten Adoptionsgruppe. Die wird nicht direkt von der Adoptionsbehörde geleitet, sondern von einem gemeinnützigen Verein, bestehend aus Psychologen, vermutlich irgendwo auch Sozialarbeitern und -Pädagogen, vor allem aber Adoptiveltern und adoptierten, inzwischen erwachsenen Kindern. Unsere Dame vom Amt hat uns empfohlen, da hinzugehen, also gehen wir. Gestern waren zum ersten Mal Eltern da. Und während der zwei Stunden, die wir in diesem Zimmer saßen, sind meine Gefühle, Hoffnungen und Ängste Achterbahn gefahren.
Ich weiß immer noch gar nicht, wie ich dieses Thema anpacken soll. Es beißt nämlich und kratzt. Das Thema heißt Behinderung. Und ich meine damit nicht Gehbehinderung, Lernbehinderung, Sehbehinderung oder Hörbehinderung. Das Behinderungsthema, das mich schon seit vielen Jahren so ängstigt und umtreibt, ist Autismus. Ich hatte schon gelesen, dass das unter Adoptivkindern weit verbreitet sein soll. Ich hatte auch gelesen, dass diese Diagnose heute immer häufiger gestellt wird, adoptiert oder nicht. Das Thema, wie gesund und vorbelastet genau unser Kind sein soll und darf und muss, hatten wir auch in den fünf Gesprächen mit dem Amt schon zigmal durchgekaut. Ja, wir waren längst gewarnt, was alles schief gehen kann, und trotzdem war ich nach keinem der offiziellen Gespräche so durch den Wind wie gestern. L. und ich hatten natürlich über das Thema gesprochen. Wir sind nach ziemlich kurzer Diskussion einer Meinung gewesen:
1. Was wir nicht wissen, macht uns nicht heiß. Wir würden nicht das Kind einer Frau adoptieren, von der bekannt ist, dass sie seit Jahren und auch in der Schwangerschaft schwer getrunken hat. Kommt das Kind aus der Babyklappe oder die Frau erscheint zu allen Terminen mit dem Amt ohne Fahne, so dass man es einfach nicht weiß, dann ist es so, und wir drücken die Daumen und hoffen das Beste.
2. Wir wissen, dass ein Adoptivkind erst mal schon durch die Trennung von der leiblichen Mutter, durch den Verlust von Geruch und Herztönen, traumatisiert sein kann - mehr oder weniger stark. Dass das in einer Bindungsunfähigkeit in den ersten Monaten resultieren kann, ist auch klar. Dass wir das mit viel Liebe, Geduld und Verständnis auffangen müssen und wollen, auch. Genau so wie die Tatsache, dass die Pubertät in unserem Fall noch mal drei Gänge härter wird als bei anderen Kindern. ("Du bist nicht meine Mutter!")
3. Jedes Kind kommt so auf die Welt, wie es nun mal ist, egal ob eigenes oder nicht. Natürlich kann es gut passieren, dass wir irgendwann Jahre später feststellen, dass unser Kind ein Hörgerät tragen muss. Dass es langsamer sprechen lernt als andere Kinder. Dass es... ach, was weiß ich. Das wissen wir, das macht uns keine Angst. Ich habe im letzten Gespräch zu unserer Beraterin gesagt, wir möchten ein Kind, das imstande ist, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen, und das auch uns noch erlaubt, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Damit meine ich nicht, dass es spätestens mit sechs Jahren die halbe Nacht allein bleibt oder uns hellauf begeistert auf New York-Trips begleitet. Ich glaube, ihr könnt euch vorstellen, was ich meine. Fehlt ihm ein Zeh, lachen wir drüber. Hat es abstehende Ohren oder eine Schwäche in Zeichensetzung, könnte die Freude nicht größer sein. Welchen Schulabschluss es mal macht, das treibt mich tatsächlich überhaupt nicht um. Ich bin 10000000000mal lieber die Mutter eines glücklichen Fliesenlegers als eines verkniffenen Professors. Natürlich bin ich das!
4. Bei einem Adoptivkind bewegen uns die gleichen Ängste und Hoffnungen wie bei einem leiblichen. Wir wissen noch nicht, wie es aussehen wird. (Und ob wir es überhaupt jemals im Arm halten werden.) Was es für ein Mensch wird, ob es eher fröhlich oder in sich zergrübelt, eher ein Gummistiefelkind oder ein Ballettschläppchenkind wird... alles, einfach alles ist ungewiss, und wir sind gespannt und aufgeregt. Trotzdem scheint das hier gründlich anders zu laufen - und zwar in jeder Hinsicht.
Ja, wir wissen, dass wir gewarnt sein müssen. Dass uns klar sein muss, worauf wir uns einlassen. Dass gewaltige Schwierigkeiten auf uns zukommen. Dass wir uns hinterher nicht beschweren dürfen. Dass wir Glück haben, Riesenglück, wenn wir überhaupt endlich ein Kind bekommen. Aber...
Herrgott, ein großer Teil von mir wünscht sich, dass endlich, endlich mal jemand aus diesem Verein oder vom Amt sagt "es kann auch gut werden. Vielleicht anders gut als gedacht, aber gut."
Stattdessen saß da gestern ein zauberhaftes, ehrliches, lustiges und sympathisches Paar, dem ich sehr dankbar sind, dass sie 18 wildfremde Menschen in das Innerste ihrer komplizierten Familie blicken lassen, und die erzählen schon wieder die Geschichte davon, wie ihr Elfjähriger heute noch jede Nacht in die Windel macht und in der Schule mit der Schere auf andere Kinder losgeht. Und der Psychologe, der daneben sitzt, nickt dazu und erläutert uns salbungsvoll, dass das vollkommen klar ist. Denn: jede Mutter, die ihre Schwangerschaft nicht voller Begeisterung aufnimmt, spannt unwillkürlich die Bauchdecke an, und was ist die Folge? Das Kind erstarrt im Mutterleib, vorgeburtliches Trauma, Unfähigkeit, Nähe zuzulassen, emotionale Störungen, und dann haben wir den Salat. Das muss man wissen! Das ist eben so. Seit dem Beginn dieser Beratungen geht es eigentlich zu 90% um Probleme. Um Mütter, die ihre Kinder nach einem halben Jahr dann doch wiederhaben wollen. Um Frauen, die wegen schwerster Sucht- und psychischer Probleme betreut wohnen, wovon aber niemand was weiß, und dann erbt das Kind die schwere Psychose. Von schwerstem Autismus. Von totaler Ablehnung der Adoptiveltern. Das kann passieren, ja - aber das kann doch nicht die ganze Wahrheit sein? Und ja, ich weiß, auch das Leben mit autistischen Kindern ist voller Freuden, voller Momente, die man auf keinen Fall missen möchten, niemals würde man sein Kind gegen ein anderes eintauschen, das weiß ich alles! Aber trotzdem habe ich jetzt Angst, und ich könnte mir in die Hose machen, ja, auch mit 39. Und die ganze Vorfreude und Hoffnung, die ich nach der Aufnahme in die Kartei idiotischerweise trotz aller Warnungen und Mahnungen und Unkenrufe empfunden habe, ist sowas von flöten. Ich wünsche sie mir so zurück, und ich bin immer noch optimistisch, dass wir mit dem, was da auf uns zukommt, egal was und egal wie, glücklich werden. Aber...
Ich möchte doch einfach nur ein Kind.
Und ich überlege ernsthaft, ob ich dieser Runde in Zukunft fernbleibe. Vielleicht bin ich auch einfach kein Psychogruppenmensch. Vielleicht mag ich nicht mit einem Namensaufkleber auf dem Hemd spät abends in einem hässlichen Zimmer sitzen. Vielleicht habe ich inzwischen eine handfeste Psychologenallergie entwickelt. Eine Psychologenkontaktallergie! (Reinbeißen würde ich nicht, so weit gehe selbst ich nicht.) Vielleicht sollte ich einfach einen zweiten Stammtisch gründen. Mit dem Mund voller Pizza hört sich vielleicht alles gleich ganz anders an.
Ist es wirklich IMMER, IMMER so? Oder neigen Eltern, denen es so ergangen ist, eher dazu, sich in solchen Gruppen zu engagieren und dann ihren Abend in einem Stuhlkreis zu verbringen? Während die vielen (hoffentlich), bei denen es ein einziges Schönwettersegeln war, gestern Abend im Kino gesessen haben statt im Mehrzweckraum, während der nette Babysitter bei den Kindern ist? Haben die mit Absicht gestern dieses Paar eingeladen, weil sie einfach nicht glauben können und wollen, dass die Dame von der Behörde uns schon so richtig nach Strich und Faden durchgewarnt hat?
Ich und mein Fusselhirn.
Und trotzdem war da gestern auch viel Schönes und Mut machendes. Aber dazu morgen. Heute bin ich kirre.