Einige Dinge lernt man mit der Zeit. Dazu gehört zum Beispiel, mit einem einzigen zarten Feuchttüchlein eine erstaunliche Menge Dünnschiss zu entfernen. Oder am Geknötter zu erkennen, ob Hunger, Kälte, Weltschmerz, Langeweile oder Müdigkeit das Problem ist. Oder Dinge mit Kind auf dem Arm mit einer Hand zu erledigen, für die man früher drei gebraucht hätte. Oder die Bude abends innerhalb von fünf Minuten zumindest oberflächlich betrachtet wieder so hinzuräumen, dass sich Erwachsene dort wohl fühlen können. (Und sich in trügerischer Sicherheit vor Kinderkram wiegen. Gerade bin ich in die nur schummerig beleuchtete Küche gegangen und habe mich dann mit einer Schüssel Heringssalat in der Hand hingepackt, weil ich auf Kalles Rutscheauto getreten bin, das ich aber ansonsten sehr empfehlen kann. Es ist ein italienisches Auto der Firma Italtrike, und es ist so ungefähr in jeder Hinsicht besser als ein Bobbycar: völlig geräuschlos, mit einem Gummirand zum Schutz von Möbeln, Türrahmen und Elternschienbeinen und extrem wendig. Eine Transportbox für Schätze hat es auch. Der Heringssalat hat sich auf einer Fläche von vier Quadratmetern verteilt.) Andere Dinge dagegen kriege zumindest ich wohl nie hin. Kein schlechtes Gewissen zu haben, egal weswegen. (Kind ausgeschimpft wegen ausgeleerten Müeslis: schlechtes Gewissen wegen Hartherzigkeit und trauriger Kinderaugen. Kind Müesli ausleeren lassen: schlechtes Gewissen wegen Erziehungsfaulheit und Prinzipienlosigkeit. Usw. usf.) Einen ganzen Tag zu überstehen, ohne ein Kind mit dem Namen des anderen anzusprechen. Oder einen ganzen Tag zu überstehen, ohne dass Kalle mindestens einmal mein Telefon in den Fingern hat, von meinem Teller isst oder aus meinem Glas trinkt, oder zwei verschiedene Socken anhat.
L. hat für 2015 einen Jesper-Juul-Abreißkalender gekauft, der uns jeden Tag mit einer anderen Erziehungsweisheit beglückt, und wenn er den Spruch des Tages vorliest, denke ich meistens nur patzig "Wäwäwäwäwä", "Jesper Jesper Polyester" oder etwas ähnlich Unseriöses. Andere verinnerlichen das alles sofort und setzen es auch mit links gleich in die Tat um! Ich aber nicht. Lange Zeit fühlte es sich trotz vollgeschriebenen Mutterpasses, nächtlichen Gebrülls und Milchstaus so an, als würde aus mir nie eine Mutter werden. Ich war so lange keine, vielleicht ja deshalb. Bis ich vor ein paar Tagen zum Einkaufen geschoben bin und zufällig mein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe gesehen habe: Frau mit dunkelblauem Parka, enger Jeans, Uggboots, Häkelmütze, Doppelkinderwagen und zackigem Gang. Und da hat es mich wie ein Schlag getroffen: ich bin eine Hamburger Mutti. Bzw. diese Hamburger Mutti, das bin dann wohl ich.
Ok, bevor Michel wieder losbrüllt, schnell die Themen:
Kalles neue Kita
Es ist nicht zu fassen, aber nach anfänglichem Schneckentempo hat Kalle seit gestern offiziell die eigentlich vierwöchige Eingewöhnungsphase hinter sich. Jeden Tag geht er jetzt von neun bis drei in die Kita, und wir sind begeistert. Dort nehmen sie alles, wirklich alles, ganz genau. Die Stärken dieser Kita liegen mit anderen Worten genau an den Stellen, an denen ich meine Schwächen habe. Und das gibt mir das Gefühl, ob zu Recht oder zu Unrecht, jetzt wird alles gut. Michel ruft nach mir, bisher ist es nur so ein diffuses Gemecker, aber gleich könnte mehr draus werden, deshalb im Schweinsgalopp weiter.
Michel
Michel hat seit ein paar Tagen bemerkt, dass er einen großen Bruder hat. Pflanzt sich Kalle vor ihm auf und zeigt ihm, wo seine Ohren, Augen, Mund und Nase sind, dann strahlt Michel ihn hingerissen an. So ein Lächeln habe ich von ihm noch nie bekommen, und Kalle lächelt zurück. Diese Momente können für eine Menge zerbrüllte Nachtruhe entschädigen, auch wenn sie nichts gegen die Augenschatten ausrichten. Ich habe außerdem gestern mal meine Badezimmerkommode aufgeräumt und festgestellt, dass ich noch für 24 Tage Femibion II habe, das stinketeuere Vitamin-Präparat für Schwangerschaft und Stillzeit. Ich habe jetzt mal so vage beschlossen, wenn die Tabletten aufgebraucht sind, stille ich ab. Jetzt sind fast vier Monate um und damit mehr Zeit, als Kalle insgesamt hatte. Es läuft nicht schlecht, aber es reicht immer noch nicht - ohne Fläschchen geht es nicht ganz. Und zwar genieße ich die kleinen Pausen, die Michel und ich zusammen haben können, wenn es irgendwie drin ist, mich mit ihm zum Stillen nach oben ins Bett zu verziehen. Aber diese Pausen sind dünn gesät, und auf dem Sofa oder im Sessel ist es wirklich nicht leicht, weil er erstens so groß ist und zweitens durch die Schiene so steif. Außerdem würde ich gerne irgendwann demnächst mit den ersten Breichen anfangen, und spätestens dann ist Schluss. Ich habe das Gefühl, wir sind so weit, das hinter uns zu lassen. Bevor eine findet, das klänge jetzt so, als hätten wir auch unsere Probleme hinter uns gelassen: haben wir nicht. Er brüllt, ich gähne. Aber auch gähnend sind seit dem letzten Post schon wieder mehrere Tage vergangen, und damit sind wir wieder ein paar Tage näher an dem Moment, an dem er seinen inneren Sonnenschein findet.
Das Pipiproblem
Dazu muss ich noch mal gesondert schreiben. Natürlich ist es als Versuchsaufbau nicht schlau, gleichzeitig die Physio und das eigenmächtige Training mit den Gewichten anzufangen. Da könnte ja jeder kommen, hinterher zu sagen, die Gewichte haben es gewuppt. Aber im Moment habe ich schon das Gefühl, die Gewichte tun mehr für mich als die Physio, und die Gewichte kann ich tatsächlich problemlos in meinen Alltag einbauen. Die Physiotherapie-Stunden laufen über weite Strecken so, dass ich auf einer Liege liege und unter Aufsicht der Expertin den Beckenboden anspanne, was sich gleichzeitig sehr anstrengend und sehr wirkungslos anfühlt - komische Kombination. Dazu muss ich auch nicht fünf Kilometer fahren und die Kinder wegorganisieren, das kann ich auch alleine. Ich habe sie jetzt schon mehrfach gebeten, mir ein paar Übungen beizubringen, die etwas sportlicher sind. Sie sagt, die gibt es nicht. Hm.
Aber zum Glück habe ich ja die Gewichte, und mit denen geht es tatsächlich voran. Mit Gewicht Nr.2 schaffe ich jetzt schon problemlos acht Minuten, wenn ich mich bewege, und zehn oder mehr, wenn ich stillstehe. Für jeden Tag, an dem die Pipibinde trocken bleibt, klebe ich jetzt einen kleinen blauen Punkt in meinen Kalender. Es werden in letzter Zeit immer mehr.
Liebe Damen, ich muss jetzt leider ran hier. A cowboy's work is never done!
One Meal Fits All
vor 17 Stunden