Donnerstag, 30. April 2015

Ich wollte gerne Kinder. Ich konnte aber keine bekommen. Jetzt habe ich trotzdem zwei. Überraschung: Kinder sind anstrengend. Was gibt es sonst noch zu erzählen?

Vielleicht liegt es an meinen insgesamt fünfzehn Abkürzungsversuchen, aber in letzter Zeit haben mich ziemlich viele Leute gefragt, was ich denn von der Berliner Lehrerin mit den vielen und demnächst noch mehr Kindern halte.
Die Antwort fällt gewohnt fusselig aus. Irgendwie will es mir nicht gelingen, dazu eine in sich geschlossene Meinung zu bilden. Einerseits finde ich, man sollte sie in Ruhe lassen, das geht uns alle einen feuchten Popel an. (Mir fällt bei solchen Gelegenheiten immer die Unterhaltung mit einem Kinderwunscharzt ein, der eine SEHR dezidierte Meinung zu Frauen Ende 30 hatte, die Kinder wollen, und selbst mit schätzungsweise Anfang 60 gerade stolzer Vater geworden war, ohne dabei irgend etwas zu finden.) Andererseits überkommt mich schon beim Gedanken an die Nächte der ersten Monate mit Vierlingen das nackte Grauen, und ich verstehe nicht, warum sie sich das in ihrem Alter antun will. Ich selbst träume gerade oft und sehr bunt davon, wie ich leben will, wenn ich 65 bin, und Babygebrüll spielt dabei keine Rolle (es sei denn, einer meiner Jungs wird mit Anfang 20 Vater). Aber auch das ist ihre Sache. Sie kennt das ja mit 13 Kindern schon sehr gut, besser als ich, und weiß in etwa, was auf sie zukommt. (Oder sollte es am Ende stimmen, dass wir alle den Stress ein paar Monate später einfach vergessen und mit babyblauem Zuckerguss überzogen haben? Und sie sitzt jetzt gerade auf dem Sofa, streicht sich über ihren Bauch und denkt, bald hat sie vier kleine Glücksbärchis, die sie den ganzen Tag anstrahlen und nachts sanft schnarchend Familienglück und Wärme verströmen?) Viele geben zu bedenken, die Kinder hätten ja nicht mehr viel von ihrer Mutter und müssten vermutlich schon früh alleine zurecht kommen - Aber das geht anderen Kindern auch so, und es ist zwar nicht schön, aber doch kein Grund, erst gar nicht auf die Welt zu kommen, oder?
Dann ist es mir wiederum nicht so ganz geheuer, dass sie die Exklusivrechte an dieser Tip-top-Story an RTL verkauft hat. Oder dass sie sagt, den Anstoß gab der Wunsch ihrer kleinen Tochter nach einem Geschwisterchen - wow, hat man jemals von einer spektakuläreren Übererfüllung eines Wunsches gehört? Oder, dass jetzt die Zeitungen wieder mal ein Extrembeispiel gefunden haben, anhand dessen man 1a Stimmung gegen Kinderwunschbehandlungen machen kann. Ich glaube immer noch, viele Leute da draußen halten das alles für eine große Freakshow - so eine Geschichte bestätigt sie noch darin. Andererseits kann ich verstehen, dass Journalisten wenig Reiz darin sehen, über eine Reihe von Familien zu berichten, die nach ein paar IVF-Zyklen irgendwann zwischen 28 und 45 Eltern geworden sind und jetzt mit ihren Kindern friedlich vor sich hin leben - und stinknormal, inklusive Schlafentzug, Kita-Viren, Nervenzusammenbrüchen und Machtkämpfen an der Supermarktkasse.
So in etwa sind meine sieben verschiedenen Meinungen dazu. Eure würden mich natürlich auch interessieren. Sagt doch mal?

Das Kochprojekt geht weiter, und inzwischen bin ich über dem Schnitt: 36 von 100 Rezepten sind durch, und erst vier Monate sind vorbei. Dabei nehme ich mir alle zwei Wochen ein anderes Kochbuch vor und mache mich an Rezepte, die mich schon lange anmachen. Gerade ist es "A Change of Appetite" von Diana Henry, und es wächst mir mit jedem Durchblättern mehr ans Herz. Es geht um - ächz - gesundes Essen - jaja, ich weiß, eigentlich könnte ich genau jetzt schon aufhören, davon zu schreiben. Aber das Schöne ist, Diana Henry isst mindestens genau so gerne wie ich, und es ist KEIN Diätbuch, und bisher war alles, was ich daraus gekocht habe, eine echte Freude. Vorgestern z.B. hatte ich den gegrillten Radicchio auf Bohnenpüree, und dieses Bohnenpüree ist aus dem Stand auf Platz 1 meiner Lieblingsbeilagen vorgeschossen, noch vorbei an gebratenen übrig gebliebenen Knödeln, Kartoffelkroketten, selbstgemachten Spätzle und Kartoffelgratin. Man würfelt eine Zwiebel, brät sie vorsichtig in Olivenöl an, gibt dann für eine Minute eine zerkloppte Knoblauchzehe dazu, dann eine kleine Tasse Hühnerbrühe, zwei kleine Dosen abgetropfte und abgespülte weiße Bohnen, Salz und Pfeffer und lässt das Ganze mit geschlossenem Deckel vier Minuten kochen. Dann wird es im Topf püriert und mit Zitronensaft und noch etwas Olivenöl abgeschmeckt. Klingt nach gar nichts, aber es war so köstlich, dass ich nicht aufhören konnte, zu probieren, bis ich mich am Ende zwingen musste, die Küche zu verlassen, damit zum Essen noch etwas übrig ist. Das gibt es demnächst mal zu gebratenem Lamm. Oder zu Endiviensalat. Oder zu gar nichts, sondern einfach so, in einer großen Schüssel vor dem Fernseher. (Es kann übrigens gut sein, dass ihr diesem Püree höchstens eine drei plus geben würdet. Aber das ist für mich der Zauber "guter" Kochbücher: einen Autor zu entdecken, dem die gleichen Dinge schmecken wie mir, und der mich trotzdem auf ganz neue Pfade führt.) Angesichts der neuen Schlafkrise geht hier gerade einiges vor die Hunde; mein Bett z.B. habe ich seit über zwei Wochen nicht bezogen (obwohl Kalle die Bettdecke mit Textmarkern bemalt hat und ich wirklich neugierig bin, ob das rausgeht), und in meinem Postfach sind ca. 20 Emails, die ich unbedingt beantworten müsste. Aber das Kochprojekt hat sich noch nie angefühlt wie zusätzlicher Stress, sondern immer wie Erholung. Würde ich einmal die Woche ins Kino gehen, würde auch niemand fragen, warum ich mir jetzt das auch noch aufhalse, und zum Kochen muss ich noch nicht mal einen Babysitter engagieren, denn Kalle wühlt so lange begeistert in meiner Kramschublade zwischen Zitronenpressen und Tupperdosen herum, und Michel liegt im Stubenwagen daneben und atmet gebannt den Geruch gebratener Kräuter und Zwiebeln ein. (Nigella schreibt immer wieder, wie sie als kleiner Pöks auf einem Schemel stand und unter Anleitung ihrer Mutter Mayonnaise und Sauce Hollandaise rührte. Das klingt doch nach einem Plan!)

Die Rückkehr in den Job ist gerade eins der Themen, um das ich innerlich einen großen Bogen mache. Michel ist ein völlig anderes Kind als Kalle, ich kann mir absolut nicht vorstellen, ihn jetzt drei Tage in der Woche allein bzw. in liebevoller Obhut zu lassen - wie soll das gehen? (Und bin ich jetzt ein Opfer mütterlicher Selbstüberhöhung, dass ich mir das nicht vorstellen kann, während es in Wirklichkeit überhaupt kein Problem wäre?) Zwei Kinder sind einfach mehr als ein Kind und noch ein Kind, alles ist deutlich mehr als doppelt kompliziert. Ich weiß auch nicht, warum, aber es ist so. Im Moment wäre ich für keinen Auftraggeber der Welt ein Gewinn, übernächtigt und durch den Wind und ständig abgelenkt, wie ich bin. Unzuverlässig wäre ich außerdem, ich habe keine Ahnung, wann ich wie viel Zeit und Energie zum Arbeiten habe, und ich hab das deutliche Gefühl, auch das großzügigste Timing auf einem Projekt würde die Lage hier zum Kippen bringen - alles bleibt so, wie es ist, nur habe ich nebenbei auch noch eine wie weit auch immer entfernte Deadline im Nacken?
Dabei ist der Gedanke, erst mal nicht zu arbeiten, trotzdem auch extrem angstgesetzt und ungut. In meinem Beruf ist es überhaupt nicht gut, lange raus zu sein, es kann schon sein, dass ich nach nur einem Jahr zuhause den Wiedereinstieg nicht mehr schaffen werde, und dann? Zudem ist gerade bei meinem dicksten Auftraggeber einiges im Umbruch, die können nicht so lange auf mich warten, es kann gut sein, dass diese Tür in ein mit Kindern vereinbares Arbeitsleben demnächst zu ist. Und dann? Und dann? Und dann?
Ich weiß es doch auch nicht, und hätte ich gerade nicht sowieso schlaflose Nächte, dann würde dieses Thema sie mir bereiten. So lasse ich das Problem gerade auf hinterer Flamme kochen, was vielleicht extrem doof und kurzsichtig ist. Freiberufliche Mütter von zwei kleinen Kindern da draußen, falls es euch gibt, wie war das bei euch?

So. Michel hat jetzt scheinbar den fehlenden Nachtschlaf aufgeholt, Mutti muss die Quatschbude zumachen. Bis hoffentlich sehr bald!

Mittwoch, 29. April 2015

Ich habe einen Traum. Demnächst bestimmt.

Das Bett wird frisch bezogen sein, am liebsten mit weißer an der Luft getrockneter Leinenbettwäsche.
Wisst ihr was? Ich nehme das zurück. Meinetwegen kann es auch 280 mal gewaschene Biba-Bettwäsche von 1984 sein, mit einem lollilutschenden Teddybärchen bedruckt. Wo war ich?
Es wird einen Nachttisch geben, auf dem werden sich befinden: eine anderthalb-Liter-Flasche Wasser mit Kohlensäure, die jederzeit nachgefüllt wird, sobald sie mehr als zur Hälfte geleert ist. Mein Kindle, voll aufgeladen. Ein nagelneues Döschen Ohropax. Ein Foto von Mann und Kindern, schlafend und lächelnd. (So ein Foto gibt es nicht, aus rein praktischen Gründen: noch nie haben beide Kinder und L. gleichzeitig und am selben Ort geschlafen und gelächelt.) Ansonsten wird der Raum sehr leer und aufgeräumt sein. Es wird ein großes Fenster geben, draußen wird die Sonne scheinen, und es wird etwas windig sein. Man sieht Natur, welche Sorte, ist mir egal. Ich trage übrigens einen gebügelten Pyjama, und weil ich weder heute noch morgen stille, kann ich mir eine volle Ladung nach Fichtennadel und Menthol duftende Kräutersalbe auf den Oberkörper schmieren.
Das Bett ist groß, neben mir ist also noch Platz für meinen Rechner und damit die Möglichkeit, mir so ziemlich jeden Film, jede Serie und jeden Blog anzusehen. Der Rechner wird außerdem über einen Filter verfügen, mit dem er es mir erlaubt, zwar online zu sein, aber trotzdem während der ganzen Zeit in dem Raum keine stressende Email zu bekommen. Jobanfragen von Kunden aus der Hölle? Rechnungen, Mahnungen? Post von dieser alten Bekannten, die sich alles halbe Jahr mal meldet, um zu quengeln, warum ich mich nicht mehr melde? Ein andermal.
Und jetzt geht die Tür zu, und ich bin allein in diesem Zimmer, und zwar für mindestens 48 Stunden, die sich auf Wunsch ohne größeren Aufwand verlängern lassen, bis ich genug habe. Genug Stille, genug Ordnung, genug Freiheit, und vor allem genug Schlaf.

Man wird doch wohl noch träumen dürfen! Wenigstens mit offenen Augen, mit geschlossenen ist es leider nicht mehr möglich.

Kaum denke ich, die Schlaflosigkeit ist bald Vergangenheit, dreht sie noch mal einen Gang hoch. Ich war gerade tagelang bei meinen Eltern, und das Tableau für Müttergenesung war perfekt: Meine Eltern haben sich rührend um ihre Enkel gekümmert, ich bekam täglich drei köstliche Mahlzeiten, für die ich keinen Finger rühren musste, das Wetter war schön und kein Kind war krank. Trotzdem gehe ich am Stock, denn in keiner der letzten sieben Nächte habe ich mehr als drei Stunden Schlaf bekommen. Nicht am Stück, sondern insgesamt. Jede Nacht gibt es diesen Moment, in dem ich absolut nicht mehr kann. Dann tröste ich mich damit, dass ich morgen irgendwie einen ein-zweistündigen Mittagsschlaf hinkriegen werde. Irgendwann wird es Morgen, ich trinke die erste Tasse Tee, dann die zweite, und dann geht es irgendwie doch ohne Schlaf. Ich habe kein Talent für Mittagsschlaf, so sieht es nämlich leider aus. Erstens schlafe ich tagsüber nicht ein, egal wie müde, denn ich kann grundsätzlich nicht schlafen, wenn ich weiß, dass in weniger als acht Stunden ein Wecker klingeln und mich wieder aufwecken wird. (Früher hat mich schon ein Arzttermin vor der Arbeit komplett um den Nachtschlaf gebracht, nicht aus Angst vorm Arzt, sondern aus Angst vor dem Wecker.) Zweitens ist mein Tagschlaf nicht wie mein Nachtschlaf. Schlafe ich doch mal ein, dann sabbere ich Kissen und Gesicht komplett klebrig und wache in einem Zustand auf, der sofort nach zehn Stunden mehr Schlaf verlangt, nach einer gründlichen Dusche und Haarwäsche. Drittens lässt der Rest der Welt mich einfach nicht. Kaum liege ich, habe mir die Linsen aus den Augen gepult und die Decke bis an die Augenbrauen gezogen, klingelt DHL oder das Telefon oder irgendwer will irgendwas, meist irgendwer mit sehr, sehr durchdringender Stimme.
Also: doch kein Mittagsschlaf für mich. Stattdessen und um nicht wahnsinnig zu werden, hat mein Fusselhirn sich einen Trick ausgedacht: jeden Tag überzeugt es sich und mich sehr gekonnt, dass es ab heute anders wird. Dass dies die Nacht der Nächte wird, die Nacht, in der ich mich abends schielend vor Müdigkeit hinlege und neun Stunden später aufwache und erst mal nachsehen muss, ob meine zwei rosigen Engelchen überhaupt noch atmen. Wider besseres Wissen glaube ich tatsächlich daran. Auch heute! Ich denke z.B. gerade: wie toll, dass meine Freundin B. erst übermorgen ihren Geburtstag feiert, denn bis dahin kriege ich noch zwei lange, erholsame Nächte voller Schlaf und Träume, so dass ich mit Sicherheit bis zwei Uhr durchhalte. Ich weiß, dass es nicht so kommen wird. Aber ich weiß genau so sicher, dass heute der Tag ist, an dem all das nächtliche Quaken um den letzten Rest Muttermilch vorbei ist - und Kalles schlechte Träume, Michels Fläschchenstreik, die Zahnschmerzen und die verstopften Nasen (die das Trinken zu einem noch größeren Problem werden lassen). Die Sonne scheint, die Vögel singen, kann doch gar nicht anders sein!




Donnerstag, 9. April 2015

Ein kleiner Rückschlag für die Zellstoff verarbeitende Industrie

Ist die eigentlich komplett bescheuert, dem Internet von ihrem Inkontinenzproblem zu erzählen? denken sich sicher manche. Ich bin eine davon. Aber so wie es aussieht, habe ich auch das bald hinter mir gelassen. Seit bestimmt vier Wochen habe ich keine Pinkelbinde mehr benutzt, und seit zwei Wochen auch keine Slipeinlage mehr. Ab und zu rächt sich das, aber nie in großem Stil.
Und was hat die Wendung gebracht? Heilt am Ende die Zeit alle Beckenboden?
Glaube ich nicht. Und die Physio hat auch wenig für mich getan. Das lag aber vermutlich an dieser speziellen Physiotherapeutin, von der ich am Ende so genervt und so enttäuscht war, dass ich von meinen sechs verschriebenen Sitzungen die letzten beiden in den Wind geschossen habe. Das, was da geboten wurde, erschien mir so wenig hilfreich, dass ich nicht bereit war, dafür die Kinder wegzuorganisieren, ins Auto zu steigen, in ein Parkhaus zu fahren und eine Stunde freie Zeit zu opfern. (Und ich habe schon oft geschrieben, wie sehr mich das ganze Problem beschämt und nervt und frustriert, an sich hätte ich also hochmotiviert sein müssen.) Es waren einerseits die Übungen, wenn man sie Übungen nennen kann. Mal habe ich gelegen, mal gesessen, und dazu habe ich den Beckenboden mal lange, mal kurz angespannt. So verging jedes Mal eine halbe Stunde, die die Physiotante mit Geplapper gefüllt hat. Dieses Geplapper war es andererseits, was mich vertrieben hat. Ehrlich, man kann doch nicht in einem Gesundheitsberuf arbeiten und dann solche Kracher abfeuern wie "Also ich weiß nicht, was die Leute heute alle haben, früher hatten sie auch Stress, aber die heute mit ihrer Schizophrenie, das muss doch nicht sein!". Ein paar Wochen lang habe ich jeden Tag bestimmt eine halbe Stunde damit verbracht, die "Übungen" zu machen, aber es hat sich sowas von gar nichts getan, dass ich es dann auch gelassen habe. Es war gleichzeitig wahnsinnig anstrengend, langweilig und aussichtslos.

Die Physio war es also nicht, von alleine ist es auch nicht passiert. Was nach meinem Gefühl den Durchbruch gebracht hat, waren die Elanee-Gewichte. Natürlich macht mich zweimal pressen nicht zur Schwangerschafts- und Rückbildungsexpertin, aber bei mir haben sie geholfen. Zudem brauchte ich für sie weder einen Babysitter noch einen Parkplatz. Einfach zweimal täglich ein Gewicht einführen, möglichst zehn Minuten an Ort und Stelle behalten, während man steht oder läuft, anschließend mit Wasser und Seife waschen, fertig. Was nach dem ersten Mal der Cantienica-Kurs (300 Euro, acht Sitzungen) nicht geschafft hat, die vier mit pastelligem Kunststoff überzogenen Nupsis kriegen es hin: ich huste schon wieder, lache oder niese, ohne mir in die Hose zu machen. Irgendwann demnächst renne ich dem Hund oder meinem Kind hinterher. Und in ein paar Monaten schnüre ich die Laufschuhe wieder zu. Ich freu mich mehr darauf, als ich sagen kann.

Mittwoch, 8. April 2015

Frei!

Eins meiner Mädchen hatte mal einen Freund, der war niedlich, aber seltsam. Wir lernten ihn kennen, als die beiden aus Berlin zu Besuch waren und wir bei uns im gerade frisch bezogenen Haus eine Party gefeiert haben. Irgendwann im Lauf des Abends stand er vor mir, strahlte mich an, machte ein Foto nach dem anderen von mir und sagte ungefähr sieben Mal mit Inbrunst: "Flora, du bist so frei!"
Ungefähr 24 Stunden lang haben wir uns alle gefragt, wie er das wohl gemeint hatte. Wollte er sagen, ich wäre so ungehemmt? Bin ich nämlich nicht. Oder, ich wäre eine von denen, die völlig natürlich und unbeeindruckt bleiben, wenn jemand sie fotografiert oder filmt? Bin ich schon gar nicht, ich bin unfähig, auf Fotos anders als komplett bescheuert zu gucken. (Sogar mein leichtes Schielen, dass man sonst kaum sieht, ist auf einmal doppelt so schlimm. Außerdem wächst mir gerne ein zusätzliches Kinn.) Meinte er, ich wäre sowas wie ein freier Geist? Sehr schmeichelhaft, aber woher will er das wissen, nachdem ich ihm bisher nur zwei gekühlte Getränke gereicht und ihn freundlich begrüßt habe?
Die Lösung kam mir einen Tag später. Seine Freundin hatte ihm erzählt, ich wäre eine Freie. Freie ist in unserem Job der Ausdruck für Freelancer. Und Jobwelten aller Art waren ihm damals eher fremd, also hat er es eben so verstanden.

Gut. Wo war ich? Ach so, Freiheit. Michel ist frei! Nicht im Sinne von Freelancer, sondern frei. Gestern um fünf vor Zwölf kamen wir auf dem gerammelt vollen Krankenhausflur zur Klumpfußsprechstunde an, hatten trotz des Andrangs aber gerade mal Zeit, einen Automaten-Kaffee in uns reinzustürzen, bevor wir aufgerufen wurden. Alles ist gut. Wir wurden sogar gelobt: ein mittig so dünnes, eingeschnürtes Füßchen wäre der Beweis, dass die Eltern wirklich alles richtig gemacht haben. Nur eine kleine Stelle am rechten dicken Zeh müssen wir ein bisschen pflegen und beobachten, aber mit täglich zwei dünnen Schichten Bepanthen sollte sie bald verschwunden sein. Ab jetzt muss Michel die Schiene also nur noch 12 bis 14 statt 23 Stunden am Tag tragen. Ich werde versuchen, mehr in Richtung 14 zu gehen - nichts wäre jetzt fieser, als dass der Fuß sich doch wieder zurückbiegt und wir noch mal auf 23 Stunden hoch oder sogar noch mal gipsen müssten. Es ist auch nicht wichtig, ob er die 14 Stunden an einem Stück oder häppchenweise hinter sich bringt. Michel muss sich jetzt also nicht unbedingt einen zweistündigen Mittagsschlaf angewöhnen, und auch wenn er im November in die Kita kommt, müssen die Damen dort nicht mit komplizierten Schühchen und Schiene herumfummeln. So lange er früh schlafen geht, legen wir ihm den Apparat um 19 Uhr an, und morgens um neun nehmen wir ihm das Ganze wieder ab.

Bisher ist er noch weniger begeistert als gedacht, was aber auch daran liegen könnte, dass er dick erkältet ist - samt Ohren und Augen. Seit heute morgen ist auch noch Fieber dazugekommen. Arme kleine Wurst - aber nur, weil Mama und Papa sich diesen Tag rot und glitzernd im Kalender angestrichen haben, musst du ja nicht unbedingt mit Konfetti werfen.



Montag, 6. April 2015

And now for something completely different

Wer zwei kleine Kinder unter zwei Jahren hat, der sehnt sich nach Dingen, die sich einfach erledigen und abhaken lassen und funktionieren. Davon gibt es gerade nicht viele in meinem Leben. Also habe ich künstlich nachgeholfen und mir die 100-Rezepte-in-einem-Jahr-Sache ausgedacht. Ich wollte bis Silvester hundert mal nach Rezept kochen. Es müssen keine neuen Rezepte sein, auch keine aufwendigen, nur eins ist Bedingung: ich muss nachschlagen müssen, wie das geht, und es dann eben machen.
Heute ist der sechste April, und bisher stehen auf der Liste:

Gefüllte Paprikaschoten (Rezept: Mama) in zwei Versionen: mit Hack für Kalle und mich, mit Reis und Schafskäse für L.
Mexican Chocolate Icebox Cookies (Dinner: a love story)
“Persischer Auflauf” nach vagen Ideen von L., nachgeschlagen bei chefkoch.de
Blutorangen-Kardamom-Sorbet (A Change of Appetite)
Tomaten-Curry (Nigella Kitchen)
Kokos-Reis (Nigella Kitchen)
Zitronen-Risotto (allerdings mit Hirse), Nigella Bites
Gebackener Fenchel (Claudia Roden, Food of Italy)
Apfelnusskuchen (Food of Italy)
Popcorn Cookies (Smitten Kitchen)
Schweineschulter-Ragù (Dinner - a love story)
Linsen-Bolognese (eat - nigel slater)
Marmorkuchen (dr oetker, Backen macht Freude)
Fisch in Bierteig (Gordon Ramsay, great british pub food)
Indischer Dhal (Natural Basics)
Lauch in weißer Sauce (Nigella Kitchen)
Salt and Pepper wings (Nigella: Feast)
Orange Granita (Food of Italy) mit Bitterorangen
Damp lemon and almond cake (Nigella, How to be a Domestic Goddess)
Marcella Hazan’s Pork braised in milk (Dinner, a love story)
Risi e bisi (Nigella: Forever Summer)
Gebackener Schafskäse in der Folie (Delicious days)
Green Bean and Lemon Casserole (Nigella, Feast)
Überbackener Blumenkohl (What Katie ate at the Weekend)

Das sind 23 Rezepte in etwas mehr als einem Vierteljahr. Das heißt, ich bin noch hinter dem Soll zurück, aber ich fühle mich nicht das kleinste Bisschen unter Druck. Und auch, wenn längst nicht jedes dieser Rezepte mit vielen Sternchen verziert wurde und auf die Liste der Sachen gewandert ist, die ich unbedingt bald wieder essen will, hat doch jedes eine ordentliche Dosis Selbstzufriedenheit mit sich gebracht, die ich gerade an anderer Stelle schmerzlich vermisse und dringend brauchen kann. (Falls es eine interessiert: unbedingt mindestens einmal im Monat essen will ich das Ragù von der Schweineschulter, das zehn Minuten Arbeit macht, die ganze Bude mit einem himmlischen Duft erfüllt, köstlich auf Pasta schmeckt, von Kalle geliebt wird und sich 1a einfrieren lässt. Außerdem Risi e Bisi, die grünen Bohnen mit Zitrone, das Zitronen-Hirse-Risotto, die Salt-and-Pepper-Wings, und spätestens zu Weihnachten mache ich die Mexiko-Kekse wieder. Nicht so angetan war ich z.B. von den Popcornkeksen, ein Rezept, das ich schon seit zwei Jahren umkreise, und in dem das Popcorn nur gestört hat, und was "What Katie ate" betrifft - ein Kochbuch, dass ich mir von meinen Eltern gewünscht und bekommen habe und das so hübsch aussieht - schwant mir gerade, dass es außer diesem hübschen Aussehen nicht so viel zu bieten hat. Aber wir werden sehen, die Rippchen z.B. probiere ich noch aus, genau wie ein paar der Backrezepte.) Ich weiß, es klingt nach Hausfrauenoverkill, sich mit zwei Würmchen auch noch ein Projekt zu suchen, aber mir hilft es. Denn nichts, was mit Kindern zu tun hat, lässt sich so gut planen und dann (oft innerhalb von gerade mal zehn Minuten) einfach machen. Ganz davon abgesehen, dass mit vollem Bauch fast alles besser geht.

Morgen um zwölf ist unser Termin mit Michel in Altona. Drei Monate sind um. Drei Monate mit mindestens 23 Stunden Schiene am Tag. Wenn ich anderen davon erzählt habe, ist mir neulich aufgefallen, habe ich es oft so erzählt, als wäre das alles toootal unkompliziert und einfach gewesen. Der Snowboard-Satz fiel z.B. oft. "Dann hat er zwei kleine Sandalen an, die werden beide fest in die Schiene eingeklickt, und dann steht er da wie auf einem kleinen Snowboard." Snowboard: da denkt doch keiner an Probleme, Behinderung, Arztbesuche und Kummer - saucooles Kind, als Baby schon auf dem Snowboard! Warum ich das immer und immer wieder so gemacht habe, kriege ich eines Tages auch noch heraus, es muss wohl irgendwie geholfen haben. Und Hilfe war nötig, es war nämlich alles andere als unkompliziert und einfach. Wenn ich die Schuhe und Strümpfe ausgezogen habe, waren da oft merkwürdige Falten und Stellen am Fuß, und auch, wenn die Ärztin uns beruhigt hat, nachdem ich ihr das immer wieder als Foto gemailt habe - wer immer mit der Tube Bepanthen in der Hand jede kleine Rötung am Po verarztet und beim ersten Husten das Fieberthermometer sucht, den lässt das erst Recht nicht kalt. Die Hauptursache für das Scheitern der Klumpfuß-Behandlung sind inkonsequente und zu nachgiebige Eltern, das habe ich mir so oft vorgebetet. Egal, wie er gebrüllt hat, egal, wie mies die Nacht gerade war, gerade wenn er brüllte, haben wir die Schiene nicht ausgezogen. Denn auch ein drei Monate altes Baby ist schon schlau genug, um zu kapieren: ich brülle lang genug, dann bin ich das Ding los, also brülle ich mal. Und keine Unbequemlichkeit jetzt kann so schlimm sein, wie eines Tages mit schiefen Füßen durchs Leben schlurfen zu müssen. Also hat er gebrüllt, und wir haben die Zähne zusammengebissen. Mit dem Ding hat Tragen in der Manduca oder im Tuch nicht funktioniert, und in seinen wirklich großzügig geschnittenen Kinderwagen hat er damit auch kaum gepasst. Ich weiß, dass wir froh sein können, in einem Land mit so toller medizinischer Versorgung zu leben und dass es großartig ist, wie viel man heute tun kann - ganz ohne OP. Wenn ich mir die Bilder ansehe von seinen Füßen, die wir nach der Geburt gemacht haben, ist es nicht zu fassen, dass sie fünf Monate später so aussehen - bis auf die leichten Verformungen durch die Schuhe völlig normal. Wir sollten die Schiene also täglich loben und preisen und ein Foto von ihr in unseren Brieftaschen herumtragen. Aber trotzdem bin ich gottfroh, wenn wir morgen die erlösende Nachricht bekommen, dass er das Ding ab sofort nur noch 14 Stunden täglich tragen muss - also nur noch nachts und zum Mittagsschlaf. (Mittagsschlaf, Michel. Das wird was ganz Neues für Dich! Ist das spannend! Oder?)

Kalle kann inzwischen Ostereier suchen, finden und essen. Tatsächlich ist für mich gestern eins dieser Phantasiebilder wahr geworden, die mich als Abkürzungsdame immer mal gefoltert, mal bei Laune gehalten haben, und es war genau so, wie ich immer dachte. Wir sind durch den sonnigen Garten gelaufen, der zum Wochenendhaus von L.s Mutter gehört, wo wir jedes Jahr an Ostern sind. Ich hatte morgens im Schlafanzug Eier versteckt, und jetzt waren wir zu dritt unterwegs, Kalle mit einem kleinen Körbchen. Er hat sie alle gefunden, in sein Körbchen gelegt, auf das er nur zweimal gefallen ist, ohne größeren Schaden anzurichten, er hatte riesige Augen und ganz rote Wangen, und am Ende hat er den Inhalt seines Körbchens unaufgefordert mit uns allen geteilt. Ich konnte nur denken, und ich habe wirklich nicht mehr dran geglaubt, nur noch ein bisschen zum Spaß, dass das eines Tages mal passiert. Ist es aber.

Neues aus seinem Vokabular:
Alabala (Luftballon)
Dau (Michel)
Altsch (Saft)
Paltsch (Salz)
A-A (Giraffe)
Außerdem Lampe, Lachs, Anziehen, Tiger, Bär, Pipi, Milch, Ei, Hase und Nase.

Die Nächte sind gerade so grauenhaft, dass ich gar nicht anfangen will, ausführlich davon zu schreiben, denn wenn ich davon anfangen würde, hätte ich mich ruckzuck in eine Situation hineinmanövriert, in der ich mich ein Jahr lang nur noch entschuldigen und dankbar zeigen muss, damit das Internet mir das verzeiht. (Stellt euch bitte mal vor, man dürfte nicht über seinen Job meckern, ohne sofort hinterherzuschieben, dass man weiß, wie viel Glück man hat, überhaupt einen Job zu haben. Dass man weiß, wie viele einen Job verdient hätten, aber keinen haben. Dass man seinen Job liebt. Dass man überhaupt insgesamt eigentlich nicht meckern will, es ist nur so, dass... es wäre zum Durchdrehen.) Letzte Nacht hat Michel nur zweimal dazwischengefunkt, während ich mit meiner Schwiegermutter "Notorious" im Fernsehen gesehen habe. Um zehn bin ich mit ihm ins Bett gegangen. Dann war er bis eins wach und ungnädig, wollte trinken, aber weder bei mir noch aus der Flasche, hat gekratzt, gezwickt, geknatscht und mich an den Haaren gezogen und mit seinen beschienten Füßen grün und blau getreten. Dann hat er geschlafen bis halb drei, bis fünf wieder Terror, dann Schlaf bis halb sieben, wieder eine halbe Stunde, diesmal ist Kalle aufgewacht und wollte zu mir ins Bett, und dann sind beide wie durch ein Wunder noch mal bis neun eingeschlafen. Seit halb eins konnte ich nur noch auf die erste Tasse Tee des Tages hinfiebern. Aber die hat dann auch wirklich geholfen.

Aber trotzdem: auch wenn äußerlich nichts, aber auch gar nichts besser wird: die Katastrophenstimmung ist dahin. Ich liege nachts da, so müde, dass ich nur noch schreien will, und denke: noch ein Jahr, dann habe ich zwei Kinder, die beide mit mir sprechen können, wenigstens ein bisschen. Die ich nachts in ihr Bett nebenan lege, die bestimmt auch mal nachts was wollen, aber die ansonsten verstehen, wenn ich abends zu ihnen sage: gute Nacht, schlaf gut, morgen wird ein schöner Tag.

Und das geht schnell, hoffentlich. Morgen wird ein gutes Jahr.