Montag, 27. Juli 2015

Kamillentee, irgendwer?

In den Jahren nach dem Abi habe ich an Wochenenden und in den Semesterferien in einem Altenpflegeheim gejobbt. Die Schwestern haben alle geraucht wie die Schlote. Ich damals bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch gerne, aber nicht während der Arbeit, das fand ich eklig. Zum Einen fing die Schicht barbarisch früh an, und so weit war ich dann doch noch nicht, mir morgens um sechs die erste Fluppe anzuzünden. Zum Zweiten kam ich mir komisch vor, inmitten all der medizinischen Geräte, der Spritzen und der teilweise fies hustenden Alten. Aber es dauerte nicht lange, da war mir klar, warum die Schwestern darauf keine Rücksicht mehr nahmen. Nur wer rauchte, hatte echte Pausen. Denn es gab kein anderes Mittel, sich innerhalb der erbärmlich kurzen und erbärmlich dünn gesäten Pausen nach all der Knochenarbeit wirklich zu entspannen. Jeder, der raucht, kennt das: man nimmt im dicksten Stress einen Zug und wird sofort ruhiger. Außerdem kamen die Alten sofort angelaufen, wenn sich eine Schwester im Schwesternzimmer niederließ. Eine vermisste ihre rosa Strickjacke, ein anderer wollte am Nachmittag gerne einen Einlauf, eine dritte juckte es am Rücken, und viele wollten einfach nur ein Schwätzchen halten oder nach ihrem seit Jahrzehnten toten Ehemann fragen. All diese Anliegen richteten sie aber nie an eine Schwester, die gerade rauchte. Beim Kaffee trinken, Brötchen essen oder mit toten Augen vor-und-zurückwippen durfte man stören, beim Rauchen niemals. Und so suchte ich Strickjacken, hielt Schwätzchen, notierte und verabreichte Einläufe und versprach, Grüße an tote Ehepartner auszurichten, wenn ich sie sähe. Das war völlig in Ordnung, ich war erstens die Dienstjüngste und zweitens nur am Wochenende und in den Ferien da. (Die unter den Schwestern beliebteste Zigarettenmarke war übrigens HB. Es waren raue Zeiten.)

So wie den Schwestern damals mit den Zigaretten ging es mir in den letzten Wochen mit meinem abendlichen Wein. Kaum hatte ich abgestillt, war er da. So gut wie alle Eltern kleiner und kleinster Kinder werden das bestätigen können: zwar gibt es eine Reihe von Schlüsselreizen, die einem deutlich sagen "die Kinder haben Sendepause, jetzt, meine Liebe, in diesen ein-zwei Stunden, bis du ins Bett fällst, bist DU mal dran". Die Tatort-Melodie gehört bestimmt für manche dazu, oder ein schnell-schnell Legofrei geräumtes Wohnzimmer. Aber nichts, zumindest nichts, wovon ich wüsste, wirkt so schnell und zuverlässig wie ein Glas Wein. Oder Gin Tonic, oder was weiß ich was andere Leute so trinken, aber jedenfalls: Alkohol. Alkohol ist erwachsen und Freizeit und Feierabend und Entspannung und Anregung und all das, woran es den Tag über trotz aller fanatischen Kinderliebe gefehlt hat. Hätte mir das jemand wegnehmen wollen, hätte ich mit Panik und heftiger Aggression reagiert. Meins! Das bisschen ist jetzt mal meins! Das beschlagene Glas, die Eiswürfel und ihr leises Klirren, das schöne Korkengeräusch, das gehört mir.
Und niemand hat es mir wegnehmen wollen. Weshalb ich es jetzt eben selbst tue. Denn ich fand in den letzten Tagen, es wurde ein bisschen viel. Ich bekomme schon von wenig Wein leicht üble Kater, manchmal sogar Migräne. Ich kann auch nicht schlafen. Das heißt, ich kann sowieso schon nicht schlafen, mit zahnendem Baby noch weniger, und die paar Stunden, die dann noch bleiben, radieren zwei Glas Weißwein (oder mehr, Schockschwerenot) zuverlässig aus. Das würde eigentlich schon fast reichen, um es zu lassen, zumindest bis die Zähne da sind. Dann habe ich festgestellt, dass ich seit der Wiedereinführung des Feierabendweins noch viel häufiger auf die Uhr gucke. Angefangen um zehn Uhr früh habe ich jeden Tag bestimmt zwanzig Mal die Stunden gezählt, bis die Kinder im Bett sind und die Eiswürfel im Glas. Und ich fand es schade, denn eigentlich habe ich doch keine Kinder bekommen, um sie jeden Tag aufs Neue schleunigst aus dem Weg zu wünschen? Klar war das alles anstrengend und oft überfordernd und frustrierend, aber... ich fand den Tunnelblick auf die Cocktailstunde gruselig. Und darum habe ich seit letztem Mittwoch das mit dem Feierabendwein gelassen. Ich habe beschlossen, das nicht als Selbstbestrafung oder Erziehungsmaßnahme zu betrachten, sondern als Erholungspäuschen. Und es tut mir ehrlich gut, von Anfang an. Ich habe ein paar Lieblingsgetränke aus der Schwangerschaft und Stillzeit reaktiviert (kalter Karo-Kaffee mit Milch und Eiswürfeln! Klirrt auch sehr schön!), ich schlafe besser, ich bin entspannter und fröhlicher und geduldiger mit den Kindern, und ich stelle überrascht fest, dass ich plötzlich mehr Feierabend habe. Zwar fehlt mir der erste Schluck Wein schon, nachdem die Muckelchen selig schlafend in ihren Betten liegen. Aber der Rest des Abends dauert ohne Alkohol einfach länger: die Zeit vergeht nicht so fix, ich muss mir neue, anders entspannende Tätigkeiten überlegen, und wenn ich weiß, dass mich kein Weißwein um den Schlaf bringt, traue ich mich auch wieder, länger aufzubleiben.
Und ich mache das jetzt erst mal so, mal sehen, wie lange.

Ich war noch nie in Harrys Bar in Venedig (nicht gerade für Selbstdisziplin beim Essen und Trinken berühmt), aber ich habe das Kochbuch schon ein paar mal von vorne bis hinten durchgelesen. Jedes Jahr im Winter feiern sie mit allen Stammgästen ein großes Fest, fressen und saufen die Vorräte leer und hängen am nächsten Tag ein Schild in die Tür: Geschlossen für Kamillentee. Dann bleibt die Bude für ein paar Wochen dicht, und danach eröffnen sie neu - mit frischen Vorräten, rosigen Wangen, ein paar Pfündchen weniger und neuer Lust an gutem Wein und noch besserem Essen. So in etwa denke ich mir das.

Mittwoch, 22. Juli 2015

Raider heißt jetzt Twix. Aber sonst ändert sich nix.

Liebe Abkürzungsdamen, Demnächst-Abkürzungsdamen und Ex-Abkürzungsdamen,

heute Nacht irgendwann um drei konnte ich nicht mehr. Ich war um elf ins Bett gegangen. Der Kleinste hatte eine Flasche um sieben bekommen, eine um zehn, eine um halb zwölf, eine um halb eins, eine um zwei, und um drei brüllte er schon wieder und ließ sich weder durch Rumtragen noch durch Gesang oder durch Zahn-Kügelchen beruhigen. Fieber hatte er keins, streckte aber gierig die Händchen nach dem halbleeren Fläschchen auf dem Fensterbrett aus. Zwar sind sowohl L. als auch ich sehr verfressen (jeder auf seine Weise), aber DAS war selbst bei einem Kind von uns ein bisschen viel. Und die Nächte davor waren nicht viel besser gewesen. L. bleibt von dem ganzen Sums weitgehend verschont; meistens schlafen wir in zwei Zimmern und ich bei dem Baby, das ist zwar nicht ganz fair, aber trotzdem finde ich, alle Fairness der Welt ist es nicht wert, dass wir beide um den Schlaf kommen.

Trotzdem war jetzt genug genug. Ich packte mein Bettzeug und meine Wasserflasche, weckte L. aus tiefstem Schlaf, erklärte ihm, dass er ab hier und jetzt übernehmen musste, und verzog mich mit Ohrenstöpseln auf den mit Betten gut ausgestatteten Dachboden. Dort schlief ich friedlich bis halb acht. Und als ich wieder herunterkam, empfing mich L. mit strengem Blick. Ich hatte mein Telefon neben dem Bett liegen gelassen, als letztes hatte ich Kommentare zum letzten Post gelesen (vielen Dank auch), und er hatte Safari geöffnet und war stinksauer. Es ist nämlich so: wir hatten das besprochen. Irgendwann hatten wir mal entschieden, dass im Blog die Kinder nicht mit echtem Namen auftauchen. Dafür haben wir eigentlich beide gute Gründe. Eine Weile lang habe ich das auch so gemacht, mein Großer hieß dann Huckleberry oder wie auch immer. Irgendwann war mir das lahm erschienen und anstrengend, und es passierte ja auch nichts Bedrohliches, und ich dachte mir, was soll's. Nur hatte ich das nicht mit L. besprochen, da war ich wohl zu lässig für.

Um es kurz zu machen, ich hab nämlich heute Abend noch eine Menge vor: er möchte nicht, dass die Jungs hier mit echtem Vornamen auftauchen. Ich war erst ein bisschen angefasst, aber dann habe ich eingesehen, dass diesmal ausnahmsweise ich die bin, die Mist gebaut hat. Und so weit das noch möglich ist, möchte ich das rückgängig machen. Darum werde ich den Rest des Abends damit verbringen, die Namen der Jungs aus den Posts zu tilgen. Und damit ich sie nicht B Punkt und J Punkt nennen muss, nenne ich sie nach zwei meiner Lieblings-Kinderbuch-Helden Kalle und Michel. B punkt ist Kalle, J Punkt ist Michel.

Dann mal los.

Montag, 20. Juli 2015

Lieber Kalle, dieses Glas Wein trinke ich auf Dich.

Jetzt vor zwei Jahren lag ich in einem erfreulich klinischen Kreißsaal des UKE, und eine Oberärztin namens Flumpi nähte mir gerade den Damm. Das war ziemlich viel Arbeit, in der Zeit stricken andere einen Pulli, aber am Ende hat sie es geschafft, und sowieso habe ich nicht allzu viel davon mitbekommen, denn auf meinem Bauch lag Kalle. Nach vier Jahren Gemurkse und Gemache und Gewünsche und Gehoffe lag er tatsächlich da, alles war dran, er war genau richtig groß und schwer und prächtig und lebendig. Und das ist er heute, zwei Jahre später, immer noch: genau richtig. Richtig quirlig und richtig neugierig und richtig lieb und richtig frech und richtig verfressen und richtig großzügig und richtig lebendig, vor allem das.
Heute war der erste Geburtstag, von dem er überhaupt etwas mitbekommen hat. Eigentlich werden Geburtstage in der Kita gefeiert, mit einer selbst angezündeten und selbst ausgepusteten Kerze, einem besonderen Geburtstags-Zug und einer Krone, und jetzt hat ausgerechnet ab heute die Kita Sommerferien, und nüschte ist es mit dem Kita-Geburtstag. Das mussten wir natürlich wettmachen. Gestern Abend hing ich etwas kurzatmig in den Seilen, nachdem ich unfassbar viele Luftballons aufgepustet habe (ich empfehle allen Müttern die Anschaffung einer Ballonpumpe), aber ich hatte einen Kuchen mit bunten Streuseln und ein paar sorgfältig ausgesuchte und sogar eingepackte Geschenke (wer einmal gesehen hat, wie mies ich im Geschenke einpacken bin, wäre grundsätzlich dagegen, dass ich überhaupt Kinder bekomme. Direkt nach dem Top-Albtraum-Job, bei H&M Kleider zusammenlegen zu müssen, käme der zweite Albtraum-Job, in einem Laden das Gekaufte als Geschenk verpacken zu müssen). Am Ende hat Kalle das Mutterherz erwärmt, indem er sich am meisten über den Kuchen und die Ballons gefreut hat, aber er hat auch den halben Tag mit dem Playmobil-1-2-3-Forsthaus und dem Aquadoodle gespielt. (Ihr wisst nicht, was ein Aquadoodle ist? Na gut. Vor zwei Jahren und zwei Wochen wusste ich auch noch nicht, was ein Maxi-Cosi ist, und offensichtlich weiß ich bis heute nicht, wie man ihn schreibt.)(Jedenfalls ist ein Aquadoodle so eine Art Matte, auf der man mit einem Stift malen kann, der nur mit Wasser gefüllt ist und deshalb nicht die Möbel ruiniert. "Braucht man sowas?" Ich finde, man braucht das.)

Ich habe mir vorgenommen, heute mal nichts über Dankbarkeit und Undankbarkeit und den ganzen Dunstkreis dieser Themen zu schreiben, sondern einfach nur über den Tag. Und der sieht gerade so aus: ich sitze hier unten in meinem Ohrensessel, meinen Rechner auf dem Schoß, und sowohl der Rechner als auch ich fühlen uns gut aufgeladen und bereit für so ziemlich alles. Neben mir im Regal steht ein Glas Weißwein mit Eiswürfeln, und noch viel wichtiger: oben in zwei weißen Gitterbettchen liegen zwei kleine Jungs, der eine im Schlafsack, der andere schon im Schlafanzug und mit Bettdecke und Kissen. Kalle kann inzwischen solche Wörter sagen wie Betonmischer, Eichhörnchen oder Buchecker, er besteht weiterhin darauf, dem Lehrbuch widersprechend Chili und Lakritz und solche Sachen zu mögen, er spielt gerne mit Wasser, beobachtet Tiere und macht sich dazu für kleine Tiere ganz klein (für Schnecken legt er sich auf den Bauch und stützt das Kinn auf), lernt gerade die Bedeutung des Wortes "Gemütlich" und macht mir jeden Tag auf hundert Arten klar, dass es das alles wert war: die Spritzen, die Ängste, die Kilos, die Rechnungen für nix, die OPs, die Pleiten und die Superpleiten und das, was danach kam. Ich weiß, so funktioniert es nicht, aber für ihn hätte ich auch die doppelte Ladung Pleiten auf mich genommen. (Dazu hab ich auch noch was zu erzählen, bestimmt bald. Bitte haltet mich nicht für doof oder vergesslich oder beides, ich weiß genau, dass man es so nicht sehen darf... wie gesagt, ein andermal, heute fühlt es sich so an.) Michel wechselt gerne im Schlaf alle fünf Minuten die Position, dann knallt die Schiene an die Gitterstäbe und es gibt einen Mordskrach, der mich früher immer aufgescheucht hat, inzwischen winke ich ab, wenn hier die Eiswürfel im Glas klirren. Kalle dagegen sucht sich einfach die unbequemste Position, die im Bett möglich ist, und bleibt dann die ganze Nacht so liegen, lässt sich aber bereitwillig umbetten, sagt einmal kurz und verschlafen "Mama" und ratzt einfach weiter.

Und Mama, das bin dann wohl ich.

Mittwoch, 15. Juli 2015

Auf bessere Zeiten! Und warum jetzt wirklich alles besser wird. Ganz bestimmt.

1. Nein, das Wunder der durchgeschlafenen Nacht hat sich nicht wiederholt, auch nicht annähernd. Aber ich arbeite dran. Mit etwas flexiblerer Bettzeit für Kalle, die dazu auch noch für mich entspannter wird, weil L. sich angewöhnt hat, ihn ins Bett zu bringen. Mit einem sättigenden Abendbrei für Michel, zusätzlich zum Fläschchen, den er mir zwar am Anfang entrüstet um die Ohren gespuckt hat, aber inzwischen zu mindestens 50% isst (wobei der Rest gleichmäßig in seine Haare geschmiert wird, die sonst eigentlich kaum vorhanden zu sein scheinen, bis er mit dem Brei anfängt, woraufhin sie plötzlich geradezu buschig wirken. Jede Menge Frisur! Mit jeder Menge Platz für Brei!), mit einer ganz guten Mischung aus Abenden, an denen ich um acht im Bett liege, und solchen, an denen ich so ziemlich das Gegenteil tue. Sapristi, wenn ich und meine Augenringe so weiter machen, dann hält mein Touche Eclat jetzt doch bis nächstes Frühjahr!

2. Außerdem mit einer Gute-Nacht-Routine oder etwas, was sich einer Routine annähert - so dass ich inzwischen mit ziemlicher Gewissheit weiß, um halb acht schläft wenigstens Michel, Kalle ist bei L. in guten Händen, und ich kann theoretisch um zwanzig vor acht in der Bahn Richtung Mädchenabend sitzen, ohne dass es vorher noch zu Verantwortungsdiffusion und Schreierei kommt.

3. Michel krabbelt und zeigt keine Neigung, wieder damit aufzuhören. Die Grundgesetze der Physik müssen auch für ihn gelten, irgendwann demnächst muss er abends einfach körperlich erschöpft genug sein, dass es bis zum nächsten Morgen reicht!

4. Michel sitzt außerdem, und er steht. Er robbt auf das Sofa zu, greift einmal zu, wackelt noch ein bisschen in den Kniekehlen uuuuuund - steht. Wenn es drauf ankommt, zehn Minuten lang, und auch den Rückweg auf den Boden meistert er inzwischen immer öfter. Aber wer sitzen, krabbeln und stehen kann, ist doch kein Baby mehr? Aus unserem Baby wird ein Kleinkind. Und während ich weiß Gott keine gute Babymama bin, eine gute Kleinkindmama kann ich sein.

5. Das Haus zu verlassen, wird immer einfacher. Der erste Schritt war, kein abgekochtes Wasser mehr zu brauchen. Als Nächstes können die Fläschchen insgesamt zuhause bleiben, Michel kriegt dann einfach ein Rosinenbrötchen in die runde Faust gedrückt und gut. Mit katastrophalen Windel-GAUs ist auch kaum noch zu rechnen, ich brauche also nur noch eine Windel und eine Wechselgarnitur, die ich in 87% der Fälle genau so zuhause wieder ins Regal sortiere. Und mittlerweile habe ich das Hamburger Budni-Netzwerk im Blut und weiß, egal wo ich hingehe, zwischen acht und 20 Uhr bin ich nur wenige Schritte von einer Drogerie entfernt, die es mir netterweise ermöglicht, kostenlos und unkompliziert mein Kind dort zu wickeln, und zwar ohne eigenes Material mitbringen zu müssen.

6. Jede Grenzerfahrung mit Kindern macht uns stärker. Letzte Woche z.B. haben wir nach der wunderschönen Hochzeit meiner Schwester im tiefsten, gluthitzigsten Bayern beschlossen, dass die Kinder und ich wohl angesichts von aufreißenden Autobahnen, Horrorstau und all dem Wahn lieber nicht mit L. im Auto zurück nach Hamburg fahren, sondern per Bahn. Das Ergebnis war, dass L. um halb sieben nach ereignisarmer bis langweiliger, wohlklimatisierter Fahrt zuhause war und wir um halb eins nach einer Irrfahrt in defekten, 55 Grad heißen ICEs, Bäumen auf den Schienen und endlosen Umleitungen durch die Walachei. Aber auch das hat geklappt, wir sind angekommen, alle sind noch heil, und nun habe ich wieder etwas, worauf ich zwar keine Lust habe, aber was mir keine Angst mehr macht. Zwölf Stunden Bahnfahrt mit Kleinkindern incl. Doppelkinderwagen und zigmal umsteigen: kriegen wir hin.

7. Es kommt vor, dass ich mich nach ein paar Minuten verdächtiger Stille frage, wo eigentlich Kalle steckt. Einmal darf ich raten: am Bücherregal, vertieft in irgend ein Bilderbuch über Bagger, Einschlafen, Tiere oder was auch immer. Er klettert alleine auf den Lesesessel, sucht sich etwas aus, sitzt dann da und liest. Ist das nicht wunderbar? Eines Tages sitzen wir zusammen auf dem Sofa, er mit seinem Buch, ich mit meinem, und streichen uns alle paar Seiten liebevoll übers Haar.

8. Jede Woche können die zwei ein bisschen mehr miteinander anfangen. Stehe ich z.B. unter der Dusche und Michel in seinem Gitterbettchen und nölt, und das Nölen hört plötzlich auf, so dass ich tropfnass ins Schlafzimmer haste, um sicher zu gehen, dass er noch atmet, dann steht dort Kalle auf der anderen Seite des Gitters und macht Faxen, und Michel beobachtet ihn hingerissen. Sitzen sie zusammen im Doppelkinderwagen, halten sie Händchen.

9. Während ich hier sitze und tippe, hat L. zu tun: er muss sich bis heute Abend fieberhaft überlegen, welches von drei möglichen Lastenfahrrädern er gerne von seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen würde: das Babboe Curve mit E-Motor, das Nihola family oder ein Christiania light? Das sind drei fabelhafte, grundsolide Fahrräder, die vorne einen großen Kasten haben, in den man nicht nur die Kinder, sondern auch noch den Hund setzen kann. Wer in letzter Zeit mal in Kopenhagen war, hat sie dort bestimmt in rauen Mengen herumfahren und die Radwege verstopfen sehen. Wenn das nicht auf großen Spaß mit kleinen Kindern herausläuft, weiß ich es auch nicht. Vor uns liegt ein Sommer voller Ausflüge, Fahrtwind, Picknicks, Muskelkater und Abenteuer.

10. Es muss einfach. Und ich weiß, dass es besser wird.


Mittwoch, 8. Juli 2015

Rakete auf Schienen

Muss ich auch nur zwanzig Minuten stehend und eingezwängt in einer engen Ubahn aushalten, könnte ich durchdrehen. Die Vorstellung, durch einen engen Tunnel zu kriechen, der gerade mal so breit ist wie ich, ist für mich eine der schlimmsten. Ich flippe ja schon aus, wenn sich ein Nachthemd nachts um mich wickelt! Wie es sein muss, monatelang ein Bein komplett in Gips zu haben und auch hinterher drei Monate lang rund um die Uhr eine Fußfessel zu tragen, mag ich mir kaum vorstellen. Egal, ob man das nicht anders kennt oder doch, schön kann es nicht sein. Ich war deshalb immer bereit, einen großen Teil von Michels Gemecker auf seine beengten Verhältnisse zu schieben. Trotzdem war immer auch klar, dass er irgend etwas will - irgend etwas, was er eben noch nicht kann, aber gerne können würde. Er hat nur drauf gewartet, endlich loslegen zu können. Und jetzt kann er. Er trägt zwar immer noch jede Nacht vierzehn Stunden lang die Schiene, aber davon abgesehen ist er frei. Frei!

Seit knapp zwei Wochen krabbelt er. Damit ist er schon mal mindestens sechs Wochen früher dran als Kalle. Und es hat sich so viel Energie aufgestaut, dass er jetzt schon stehen will. Er sucht sich irgend etwas, woran er sich hochziehen kann, macht den herabschauenden Hund, hält sich erst mit einer und dann mit der anderen Hand fest und steht. Dabei strahlt und gurrt er glücklich in die Runde, minutenlang, bis ihm aufgeht, dass er noch nicht weiß, wie er hier wieder runterkommt. Dabei helfe ich ihm dann. So machen wir das stundenlang, und er ist dabei so fröhlich und unternehmungslustig, dass es wirklich eine Freude ist, in seiner Nähe zu sein. Ich glaube wirklich, der wird mit zehn Monaten laufen, und habe ein bisschen Angst, denn gesund ist das laut Kinderarzt nicht (wobei der das vielleicht damals nur zur Beruhigung gesagt hat, weil Kalle sich so viel Zeit gelassen hat). Und! In der Nacht von Montag auf Dienstag hat er zum ersten Mal durchgeschlafen, von 20 bis 6 Uhr! Ich bin daraufhin gestern pfeifend durch den Tag gehüpft, habe heute Nacht direkt von einem dritten Kind geträumt (wobei es in dem Traum vorrangig um die Mahlzeiten ging, die auf dieser Phantasie-Wochenstation serviert wurden), und habe so dermaßen Oberwasser, dass ich mir eine scheuern würde, wenn ich nicht ich wäre. Und kaum ist Michel ein bisschen freier, bin ich es hoffentlich bald auch und kann mit der neuen Energie, die mir der lang vermisste Schlaf bringen wird, endlich wieder all die Dinge machen, die andere Erwachsene auch tun! Sachen lesen, Sachen schreiben, Sachen kochen, noch mehr Sachen kochen meine ich, Unkraut jäten, Hemden bügeln, den Stau auf dem Festplattenrekorder wegglotzen, Abende mit Wein auf der Couch verbringen, ausgehen, (Zelda spielen, hüstel...) und und und. Und dann berichte ich bestimmt auch noch mal ausführlicher von New York und von der Hochzeit meiner Schwester, auf der wir das letzte Wochenende verbracht haben. Vielleicht findet sich sogar ein unscharfes Foto von Kalle im Matrosenanzug? Mal sehen.

Nein, mit Michel ist alles gut. Mit wem nicht alles gut ist, ist Kalle. Montag waren wir beim Kinderarzt zur U7, und es gibt ein Problem. Wieder mal eins, das "extrem selten" und "seit 15 Jahren in dieser Praxis nicht vorgekommen" ist. Die Fontanelle ist noch nicht zu, auch nicht annähernd, bestimmt vier Quadratzentimeter weiche Schädellose schädeldecke hat er mitten auf dem Kopf. Natürlich habe ich das bemerkt, aber ich dachte immer: so ist das bei kleinen Kindern, erst ist sie offen, und dann wächst sie irgendwann zu. Ich wusste nicht, dass es dafür eine Deadline gibt. Jetzt hoffen wir, dass sie bald zugeht. Und beim Spielen wird er ab sofort einen Helm tragen müssen. Zwei Stück habe ich bestellt, einen für die Kita, einen für Zuhause, und die kommen hoffentlich morgen an. Ich weiß, vermutlich ist das alles gar nicht schlimm, und besser zu spät als zu früh geschlossen, aber... ächz. ("Du musst auch immer was Besonderes sein", hat mein bekloppter Exfreund mir gerne vorgeworfen. Muss ich nicht! Glaub mir einfach, muss ich nicht! Ich lege absolut keinen Wert darauf, auch nur noch einmal im Leben von einem Arzt zu hören, dass sowas noch nie war.)