Manchmal lese ich den Blog von Claudi, den ihr hier findet, und dann öffne ich nach ein paar Posts hektisch ein neues Fenster in Safari und mache mich auf die Suche nach alten Bauernhäusern im Hamburger Umland. Dann träume ich von einem Leben voller Strohhüte und zauberhafter Deko, von selbstgemachten und jahreszeitlich angepassten Kränzen an einer alten Holztür und von blonden Kindern, die barfüßig und glücklich durch Blumenwiesen streifen. So müsste man leben! Mit DIY-Projekten, mit Bollerwagen und mit viel viel Liebe, die man auf öffentlichen Fotos sehen kann. Die blonden Kinder habe ich, aber DIY und Blumenwiesen? Nö, und die Liebe muss man sich oberflächlich betrachtet bei uns einfach dazudenken.
Und dann muss ich mich kurz schütteln und mir mit fester Stimme sagen: Ja, das ist alles schön und gut. Aber eben für Claudi, nicht für dich. Denn du hältst ja noch nicht mal ein paar Balkonkräuter über mehr als zwei Monate am Leben. Du hast überhaupt keinen Nerv für Basteln und Deko, und Kränze flechten kommt gleich gar nicht in Frage. Als nächstes kaufst Du Dir eine Nähmaschine und nähst deinen Zeigefinger an ein Stück hübsch gemusterte Baumwolle, oder wie? Dabei ist es noch nicht mal nur so, dass das alles aus rein weltanschaulichen und praktischen Gründen nicht geht. Sondern es passt einfach nicht zu deinem Charakter. Du schleuderst nach zwei Minuten entnervt jeden Prittstift in die Ecke, dem müssen wir ins Auge sehen, ohne zu blinzeln. Und alle schönen Phantasien von einem anderen Leben für eine andere Flora sind eben das: schöne Phantasien. Genau so gut könntest Du von einem Leben mit 100 Objekten träumen, Zahnbürste und Schilddrüsentablettenpackung eingeschlossen. Oder von einem Leben als buddhistische Nonne. Oder von einer Einsiedlerhütte in den Alpen oder einem Job als Bordbloggerin auf einem Segelschiff. Es kommt vor, dass Du aus einer Laune und einem ruhigen Moment heraus etwas dekorierst. Das hält dann ungefähr zwei Stunden, bis es dank der Kinder in Schutt und Asche liegt, und noch nie warst Du geistesgegenwärtig genug, ein Foto davon zu machen und es im Internet zu posten.
Von Andreas Dorau gibt es ein sehr gutes Lied, das heißt “so beeinflussbar”. Zeig mir etwas, und ich will es auch oder glaube zumindest für eine ganze Weile, mein Leben, ach was, ICH wäre besser, wenn es bei mir auch so wäre. So wird man nicht glücklich, das ist mir schon klar! So kommt man nie irgendwo an und gut ist, so kann man keine stringenten Pläne schmieden und umsetzen. Man kann nicht ständig denken, so mache ich das, aber vielleicht auch genau anders.
Sprecht mir nicht von der dollen Belastung durch drei Kleinkinder, DAMIT muss man erst mal leben! Experten nennen das Fusselhirn.
Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, Identität ist eigentlich wie dieses altmodische Glücksrad-Spiel, man dreht kräftig am Rad, und wo es einrastet - warum auch immer - da bleibt man dann eben ein Leben lang. Bzw. Jahre. Bzw. Minuten.
Inzwischen kommen die Abende zurück. Es ist noch gar nicht lange her, da war ich um acht im Bett. Manchmal auch um sieben! Um sieben muss Michel seine Klumpfuß-Schiene anziehen, damit wir 12 Stunden schaffen, danach beginnt das (leider inzwischen manchmal zweistündige, doch davon ein andermal) Ins-Bett-geh-Ritual, das ich gerne in großen Teilen L. überlasse, und noch vor vielleicht sechs Wochen habe ich an manchen Abenden die letzte Klumpfußschuh-Schnalle geschlossen, den Reißverschluss seines Schlafsacks zugezogen (damit er nicht auf die Idee kommt, die Schuhe mitten in der Nacht wieder auszuziehen und so den schönen orthopädischen Plan zu unterminieren) und bin direkt und ohne Zwischenstopp ins Bett verschwunden. Jetzt wird es manchmal 21:45, ich sitze mit Rechner und Mucke am Küchentisch, und weil da so schön ist, bleibe ich wohl noch ein Weilchen und denke über mein Leben nach, in dem die Milch nicht aus handbeschrifteten Milchflaschen kommt, sondern aus wabbeligen Tüten, bei denen man oben so eine kleine Ecke abreißen muss und die ein kleines Schlauchboot-Element haben, damit sie nicht einfach in sich zusammensacken. Großstadt, Yeah! 2017, Yippie! Futuristische Verpackungen, rockt on!
One Meal Fits All
vor 22 Stunden