Montag, 30. Juni 2014

Prioritäten, Schmioritäten.

Als wir in der neunten Klasse waren, wollte unsere Deutschlehrerin wissen, was wir mit unserem Leben vorhaben. Ich war ehrlich baff über manche Antworten. Ein sehr netter Junge, der ein schlimmes Hautproblem hatte und seine großen Pausen an der Tischtennisplatte verbrachte, sagte: "Ich will nach dem Abitur Medizin studieren und mich dann auf Onkologie spezialisieren, und wenn es klappt, dann würde ich gerne an einer der großen Kliniken in den USA arbeiten." Ein großes, ruhiges Mädchen, das gut in Handball war und in der Pause immer Obstsalat aus der Dose aß, sagte: "Ich wechsele nach der zehnten auf das Wirtschaftsgymnasium in XY, mache mein Fachabi, danach eine kaufmännische Ausbildung in einem holzverarbeitenden Betrieb und steige dann in die Firma meines Onkels ein." Bamm! Einfach so. Mit fünfzehn! Und ich saß da zwischen all diesen angehenden Grundschullehrerinnen, Ärzten und Holzfachdingsbumsen und hatte wirklich nicht die allerleiseste Ahnung, was ich auf so eine wichtige Frage antworten soll. Nicht, dass ich für immer in der neunten Klasse bleiben wollte, ich fand die Schule schrecklich und konnte es kaum abwarten, dass das alles endlich vorbei sein würde. Aber sich für eine Sache zu entscheiden und damit all die anderen tollen Dinge aufgeben, die man außerdem noch machen kann - und das, bevor man auch nur den dicken Zeh in die Welt gestreckt hat - das war wild. Ein bisschen neidisch war ich auch. Mir schwante damals schon, dass ich nie so werden würde, egal ob neunte oder siebenundzwanzigste Klasse. Im Studium dachte ich, das muss toll sein: sich für ein Fach zu entscheiden, und zwar gerne zu entscheiden, mit dem der Weg wirklich vorgegeben ist. Arzt werden zu wollen, wie toll! Oder Richter! Oder Kriminalkommissar! Meine kurze Liebäugelei mit dem Schauspiel hatte vermutlich auch damit zu tun: alles und gleichzeitig gar nichts sein zu dürfen. Ein paar Tage lang ist man Krankenschwester, dann Polizistin, dann Tierpflegerin, dann...

Bis heute ist mein Berufsleben etwas unordentlich, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt. Aber es zwickt mich immer noch manchmal, dass meine verschiedenen Ziele so gar nicht an einem Strang ziehen. Wie toll das sein muss, eine Sache unbedingt zu wollen - und die nachgeordneten Bedürfnisse von Platz 2 bis 34 stehen alle bei Fuß und arbeiten in die gleiche Richtung! Ich stelle mir z.B. vor, jemand möchte gerne Kinder. Vielleicht ist es nicht leicht, schwanger zu werden und zu bleiben, aber irgendwann klappt es mit viel Glück. Ziel Nr.1: Haken dran. Und jetzt kommen die anderen Ziele dieser beneidenswerten Person: eine Familie haben, mit einem richtigen Familienleben. Dieser Familie ein schönes, sicheres, behagliches Nest bauen. Vielleicht noch einen Hund anschaffen. Ferien an der See. Freundschaften aufbauen mit anderen Leuten, di auch Kinder und Nester und Hunde haben. Und in der Zeit, die dann noch bleibt, ein familienfreundliches Hobby. Quilten oder Stricken oder Scherenschnitte, hergestellt nach den niedlichsten Fotos der Familienmitglieder. Vielleicht wird aus den Scherenschnitten sogar ein Blog? Und aus den Quilts? Und die Sache verselbständigt sich? Irgendwann hat man internationale Ausstellungen mit seinen Quilts zu Themen wie "Islamismus und die westliche Gesellschaft" oder den Scherenschnitten von Gefängnisinsassen. Aber eigentlich bleibt alles auf dem gleichen Teppich.
Oder ich stelle mir jemand anderen vor, der sich für hundert Dinge interessiert und ständig Hummeln im Hintern hat, was jobliche Veränderungen, Abenteuer rund um die Welt, nächtliche Eskapaden oder Feiern bis der Hahn kräht angeht. Und dieser jemand geht irgendwann in sich und beschließt: Kinder passen da nicht rein. Genau so wenig wie Hunde. (Oder häusliche Hobbies.) Und dann ist das so, und gut. Wie schön das sein muss, seinen Kopf so in Ordnung zu haben!

Und dann gibt es solche wie mich. Ich bin ja schon kaum imstande, mir zu überlegen, ob ich lieber Pizza oder beim Chinamann bestellen will. Geschweige denn die noch wichtigeren Dinge. Dabei ist es nicht so, dass ich hinterher so schrecklich hadern würde mit meinen Entscheidungen. Habe ich dann die Pizza, ist alles gut (es sei denn, die Pizza ist es nicht) und ich trauere dem Teriyaki-Huhn nicht hinterher. Jetzt bin ich in der selten glücklichen Lage, dass entgegen fast jeder Wahrscheinlichkeit Wunsch Nr.1 geklappt hat, und zwar gleich zweimal ("Ab 40 können Sie es eigentlich fast lassen. Und nach sieben Fehlversuchen sage ich den Frauen auch meistens, dass es keinen Sinn mehr hat" - so oder so ähnlich hat der Reproduktionsmediziner beim Expertenchat sich ausgedrückt, und ich dachte zu gleichen Teilen "Soso, mein Lieber, guck mal hier: Ätsch" und "Au Backe, das war knapp".). Aber Wunsch Nr. 2 bis 427 weigern sich zu großen Teilen, sich in die große Choreographie einzufügen, und trampeln kreuz und quer durchs Bühnenbild. Ein paar meiner Wünsche spuren ja. Der Kochfimmel z.B. macht sich gerade sehr nützlich und wird es bestimmt noch mehr tun, falls Huckleberry dabei bleibt, so ziemlich alles zu essen, was ich ihm vorsetze. Und ein bisschen häuslicher bin ich auch geworden, was vielleicht auch daran liegt, dass unsere Großbaustelle langsam menschliche Züge bekommt. Ist das Haus netter zu mir, bin ich auch netter zum Haus. Aber ich muss leider berichten, dass meine Sehnsucht nach Kieznächten, bis andere zur Arbeit fahren, ungebrochen ist. Die Mädchen würden vermutlich den Kopf schütteln, denn die traurige Wahrheit ist, dass ich an den meisten unserer Abende ab zehn nur noch mit offenem Mund und halb geschlossenen Augen in der Ecke hänge und mich gegen halb elf endlich ins Auto und dann nach Hause schwinge. Ja, mein schlafdepriviertes Hirn macht mir einen Strich durch die Rechnung, aber wenn ich könnte, wie ich wollte... auch Laufen würde ich so gerne mal wieder, dass mir regelmäßig Tränen in die Augen schießen, wenn ich andere Frauen durch den Park traben sehe (oder mein iphone sich versehentlich in meine Lauf-Playlist verirrt). Als Ersatz habe ich jetzt einen Fitbit angeschafft, der zählt immerhin meine Schritte, aber bis Kind zwei da ist und der ramponierte Beckenboden mir wieder gehorcht, werde ich spazieren müssen, wo ich früher gerannt bin. Ich weiß, wie glücklich ich sein kann, und ich bin es auch immer wieder, und gerade in den letzten Tagen kann ich manchmal kaum fassen, dass dieser niedliche kleine Pups tatsächlich mein Sohn sein soll, dass ich ihn behalten darf, wenn ich gut auf ihn aufpasse, und dass bald noch ein zweiter dazu kommt. Ich würde ihn für nichts in der Welt wieder hergeben, schon gar nicht für lustige Kneipenabende und das Training für einen Halbmarathon. Ich weiß, dass da draußen viel zu viele sitzen, für die dieser Wunsch Nr.1 nicht in Erfüllung gehen wird, und für die liest sich das hier mit Sicherheit wie blanker Hohn. Ich würde mir nur wünschen, dass ich - egal ob durch eine Art buddhistischer Selbsthypnose oder Hormone, die doch angeblich schon viel schwerere Fälle in den Griff bekommen haben, oder durch Altersmilde, Therapie oder was weiß ich - endlich damit aufhören kann, dieses ständige Jucken nach den anderen Dingen zu haben, die auch mal wichtig waren und eben immer noch sind, egal ob das jetzt im Sinne allgemeinen Erwachsenwerdens, der Demut und Dankbarkeit und der Familienfreundlichkeit ist oder nicht.

Das mit der Holzverarbeitung hat übrigens geklappt, so viel ich weiß. Das mit der Medizin, der Onkologie und den USA dagegen nicht.

1 Kommentar:

  1. Flora,
    find ich absolut legitim und normal und kommt mir seeeehr bekannt vor. Ich bin sehr glücklich mit dem was ich habe, aber ich denke auch immer wieder an andere "wilde" Sachen, die noch gern machen würde oder gemacht haben wollte und es nicht mehr tun werde. Aber ich bin in meine Phantasie auch wilder als in der Realität...

    Naya

    AntwortenLöschen