Nein, vom Netz bin ich nicht, aber zu sagen, ich lebe noch, wäre auch etwas übertrieben.
Kurz zur Lage hier:
Michels Füße
Michels Füße tun, was sie sollen, das heißt, der rechte (Klumpfuß) sieht ziemlich deformiert aus durch die engen Sandalen. Die messerscharfen Falten, die er anfangs in der durch den Gips noch so empfindlichen Haut hatte, legen sich aber etwas, der Fuß wird auch nicht mehr so rot und dick, wenn ich die Schuhe ausziehe, und sieht insgesamt eigentlich ganz rosig und lebendig aus. Außerdem kann ich keinen Unterschied in seinem Befinden mit oder ohne Schiene feststellen, er blüht weder auf noch ab, wenn die Schuhe aus sind und er mit nackten Füßchen strampeln kann. Diesen Teil der Behandlung kriegen wir also hin.
Unsere Nächte
Was ich aber nicht mehr lange hinkriege, ist das Weinen, die Schlaflosigkeit, das ganze traurige, verkrampfte Kind. Eine Minute am Tag lächelt er mich an und macht gurrende Laute. Diese Minute sauge ich in mir auf wie früher den letzten Rest von einem leckeren Cocktail, sie muss mich die restlichen 23 Stunden und 59 Minuten wärmen und bei Laune halten. Den Rest der Zeit guckt er entweder wie ein beleidigter Frosch oder weint. Schlaf scheint er so gut wie nicht zu brauchen. Heute Nacht war er vierzehn mal wach, und jedes einzelne Mal dauerte so ungefähr zwanzig Minuten. Irgendwann in jeder Nacht kommt der Moment, in dem ich merke, jetzt wird es langsam heller da draußen, und dann bin ich so verzweifelt, dass ich nur noch stumpf vor mich hinstarren kann. Sogar beim minutenlangen Vor- und Zurückwiegen mit dem Oberkörper habe ich mich schon erwischt, wie ein psychisch krankes Zootier. Denn jetzt ist wieder eine Nacht vorbei, wieder habe ich nicht geschlafen, wieder ist es nicht besser geworden. Dann ist der schlimme Moment hinter mir, und ich rede mir ein: vielleicht wird ja die nächste Nacht schon besser, Hurra! Manchmal denke ich, mit dem Abstillen wird es besser. Manchmal denke ich, das Stillen ist gerade das Einzige, was noch klappt - ein paar Mal am Tag ziehe ich mich mit ihm für eine halbe bis dreiviertel Stunde ins Bett zurück, er saugt, manchmal lächelt er sogar ein bisschen, und vielleicht schläft er für ein Viertelstündchen ein. Ich weiß nur, das muss besser werden, sonst... weiß ich auch nicht. Es muss eben einfach. "Besser werden" ist gerade mein Mantra, ich denke das den ganzen Tag stumpfsinnig vor mich hin.
Michels Weinen
Der Arzt sagt, da muss er durch. Sein Blut ist in Ordnung, keine erhöhten Entzündungswerte, keine Bakterien, eigentlich geht es ihm gut. Wenn das Michel ist, wenn es ihm gut geht, dann grusele ich mich jetzt schon davor, wie es wird, wenn mal nicht. Und jetzt? Schreikinder-Ambulanz? Ich habe erst mal einen Termin bei meiner Osteopathin gemacht, Mittwoch morgen um neun sind wir da.
Das Pipiproblem
Letzte Woche hatte ich den ersten Termin bei der Physio, diese Woche den zweiten. Ich tue mich ehrlich schwer damit, es ist wieder wie bei Cantienica: den Beckenboden anzuspannen, fühlt sich an, als würde mir jemand sagen, ich soll mit den Ohren wackeln. Eigentlich bin ich voller Hoffnung da anmarschiert und habe ihr von meinem Ziel erzählt, unbedingt 2015 wieder mit dem Laufen anzufangen. Ich dachte, das muss zu machen sein - Dezember 2015 ist doch noch so lange hin, vorsichtiger kann man sich ein Ziel nicht setzen! Sie guckte mich skeptisch mit schiefgelegtem Kopf an und sagte: mal sehen. Vielleicht auch erst 2017. Ich habe gemerkt, wie viel Hoffnung ich in dieses für manche vielleicht unwichtig klingende Ziel gesetzt hatte. Laufen war wirklich, wirklich wichtig für mich, und so, wie es hier gerade läuft mit Babystress, Rückenschmerzen, dem Gefühl, eingesperrt und komplett machtlos zu sein, wäre es jetzt noch viel wichtiger, als es jemals war. Es ist viel mehr für mich als nur eine Methode, abzunehmen, es hat genau genommen mit Abnehmen kaum etwas zu tun. Es war Freiheit, Selbstkontrolle, endlich wieder etwas hinkriegen und etwas für mich tun. Mich an etwas anderem abstrampeln und zu erleben, wie es Woche für Woche besser wird. In diesem Moment war schon viel Luft raus, die ich jetzt mühsam wieder sammeln muss, wenn ich bei der Ohrenwackelei bei der Stange bleiben will.
Kalle
Kalle ist so niedlich, dass ich nicht an ihm vorbeigehen kann, ohne ihn kurz auf den Arm zu nehmen. Leider muss es meistens dabei bleiben. Fast meine komplette Zeit und Kraft geht für Michel drauf. Zum Glück ist L. auch noch da. Zum Glück haben wir eine in Hamburg lebende Oma. Zum Glück kommt dreimal wöchentlich das Kindermädchen für ein paar Stunden. Zum Glück geht das irgendwann vorbei, und ich kann wieder Mama für beide sein. Ich achte schon darauf, jeden Tag ein paar Mal nur für Kalle da zu sein. Gestern waren wir kurz im Schnee (mag er nicht so), ich habe mit zwei dreckigen Babysocken über den Händen Jagd auf ihn und sein runtergefallenes Abendessen gemacht, und wir haben Fangen um und unter dem Esstisch gespielt. Ihm fehlt nichts, er quiekt und lacht. Aber mir, mir fehlt eine Menge. Ich will auch nicht, dass das hier zu einer Glückskind-Pechkind-Welt wird. Aber gerade ist es eben so. So viel Kummer konzentriert in so einem kleinen Männchen! Irgendwie muss man ihm doch da raushelfen können! Wenn diese Osteopathin wüsste, wie viel Hoffnung ich in sie und ihre Behandlung setze, dann hätte sie jetzt schon Spannungskopfschmerzen.
Die Kita
Während ich hier schreibe, läuft eine kleine Hexenjagd in meinem What's-App-Verteiler. Wieder mal geht Durchfall um, und irgend jemand muss ja Schuld sein. Ich lese mir das durch und denke mir: noch fünf Tage mit heute. Freitag backe ich Abschieds-Muffins, die Kita-Tanten kriegen einen Kinogutschein zum Abschied, und dann war es das, und wir ziehen in den rosigen Montessori-Sonnenuntergang. Mit hoffentlich unkomplizierter und zügiger Eingewöhnungsphase. Und weil ich gerne mehr Zeit mit Kalle haben möchte und gerade auch ganz ehrlich jede Minute feiere, in der jemand anderes sich die Ohren vollbrüllen lässt, werde ich wohl die Eingewöhnung mit ihm machen. (Hoffentlich sehen die Montessori-Damen das nicht zu eng, wenn die neue Mama fünf Minuten nach Beginn des Experiments schnarchend am Sandkastenrand in sich zusammensackt.)
Klingt alles ziemlich finster, ich weiß. Ist auch so. Wird bestimmt anders, und dann herrscht hier wieder eitel Kinderglück und Sonnenschein. Nur im Moment läuft es nicht gut, Ferrero-Welt ist weit weit weg.
One Meal Fits All
vor 21 Stunden