Mittwoch, 1. November 2017

Stars in der Manege

Heute ist etwas ganz Besonderes passiert, und dass es so besonders war, ist mir erst ein paar Minuten später aufgegangen. Ich habe mit Klärchen im Kinderwagen auf einen Aufzug gewartet. Bei diesem Aufzug weist ein Schild ausdrücklich darauf hin, dass Rollstuhlfahrer und Kinderwagen Vorrang haben. Außerdem muss man wissen, dass dieser Aufzug einer der langsamsten der Stadt ist. Ich habe manchmal schon zehn Minuten mit dem Warten auf diesen Aufzug verbracht. Auch heute dauerte es. Ungefähr eine Minute nach mir stellte sich eine Familie mit zwei Jungs im Kindergartenalter dazu. Und dann geschah das Besondere: die Mutter nahm ihre Kinder beiseite, hockte sich ganz dicht zu ihnen und flüsterte ihnen dann so zu, dass ich es kaum verstehen konnte, wenn jetzt gleich der Aufzug käme, dann müssten sie unbedingt warten, bis ich mit Wagen drin wäre, und erst dann dürften sie einsteigen. Sie sollten nicht drängeln, nicht schieben und schön leise sein. Denn ich sei zuerst da gewesen, und ich hätte einen Kinderwagen mit einem schlafenden Baby dabei.

Dann kam der Aufzug, sie haben ein bisschen gedrängelt, aber wirklich nur ein bisschen, und mit einem Griff an die Schulter haben sie sofort damit aufgehört und haben mir noch einen schüchternen Blick zugeworfen.

Das Besondere daran war, dass die Frau geflüstert hat, und zwar nicht laut geflüstert - dieses Flüstern, das meterweit trägt - sondern tatsächlich nicht wollte, dass ich das höre. Und das ist wirklich ungewöhnlich. Denn in letzter Zeit habe ich manchmal den Eindruck, 70-99% der Erziehungsversuche in meiner Nähe passieren nicht den Kindern zuliebe, sondern für die mehr oder weniger zufällig anwesenden Erwachsenen. Ob die Mutti vor mir ihren Kindern in der Supermarktschlange mit tragender Stimme ausführlichst und pädagogisch lehrbuchmäßig erklärt, wieso es jetzt keine Süßigkeiten gibt, ob es darum geht, wie die Hausschuhe in der Kita weggeräumt werden müssen oder um sozialverträgliches Verhalten im Sandkasten: wir hören zu, und plötzlich sind wir Punktrichter, ohne uns jemals für diesen Job beworben zu haben. Dabei scheint es so zu sein, dass es die echten Top-Noten in dieser Erziehungs-Saison vor allem für Strenge gibt. Immer liebevoll, klar - aber eher zu den strengeren Eltern zu gehören, ist schon erstrebenswert. Strukturen, Regeln, klare Kante: guckt mich an, ich mache es richtig. Und ich will hier gar nicht groß dazu schreiben, was ich davon halte, ich bin mir da nämlich selbst nicht immer so sicher, aber sehr sicher bin ich mir, dass Show-Strenge für Publikum zwar menschlich verständlich, aber trotzdem daneben ist. Schief geht es außerdem. Wie soll Mariechen (die sonst zuhause so ziemlich alles essen oder verschmähen darf, was sie will) das auch raffen, wenn jetzt hier im Supermarkt Mama auf einmal anfängt, irgendwas von Gemüse und alle essen zusammen zu erzählen? Sie versteht die Welt nicht mehr, und mir ginge es genau so. Au Backe, die anderen Kita-Eltern dürfen bloß niemals merken, dass unser Kind fernsehen darf, Süßigkeiten isst, manchmal mit Papas Iphone spielt und Superhelden-Schlafanzüge von H&M trägt, die in Bangladesch hergestellt wurden. Wie stehen wir sonst da? Ich hab das übrigens auch schon gemacht. Trist ist das, und ich schäme mich auch ein wenig, aber ich hab's getan.

6 Kommentare:

  1. Jaaa. Das ist mir tatsächlich auch schon sooo oft begegnet, auch in meinem eigenen Verhalten. Also: Schuldig. Ich hab mir schon diverse Male den Kopf zerbrochen, in welchen Situationen ich dieses bemitleidenswerte Verhalten an den Tag lege und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich es immer dann mit den von dir beschriebenen Personen zu tun habe. Mit Eltern, die vermeintlich in ihrer Erziehung alles richtig machen und einen sonnenklaren Kurs fahren mit einer Selbstverständlichkeit, die mich immer verunsichert oder verblüfft. Meine Theorie ist aber, dass das oftmals Eltern sind, deren Kurs nicht hausgemacht sondern schlicht und ergreifend nachgelebt aus vorangegangener Generation ist. Soll für mich heißen, dass nachdenkliche und empathische Eltern mit unklarem weil nicht vorgefertigtem Erziehungskurs es oftmals dahingehend schwieriger haben, in jeder Situation souverän zu wirken. Da stellt sich natürlich wieder die Frage, vor wem die Souveränität auftauchen soll und auch warum. Sei es wie es ist, ich habe mir schon längst auf meinen Aufgabenplan geschrieben, die zufällig anwesenden Eltern an meinem Allerwertesten schnuppern zu lassen, wenn meine 3-jährigem Zwillinge mal wieder außer Rand und Band sind. Das gelingt mitunter gut und weniger gut, je nach eigener und kindlicher Tagesformund je nach wohlfühl- oder unbehaglicher Örtlichkeit. Auf jeden Fall frage ich mich desöfteren, warum es da so unterschiedliche Charaktere im Hinblick auf Selbstsicherheit in Sachen Erziehung gibt. Disposition ist das eine aber eine fundierte Ausbildung dazu haben wohl die wenigsten. Was heißen soll, alle sitzen zu anfangs ja wohl in ähnlichen Booten und wenn alle etwas weniger Manege und dafür mehr echte Authentizität im Sinne der eigenen Erfahrungen und damit Selbstsicherheit auf die Spielplätze bringen würden, wäre das soziale Miteinander wohl wesentlich angenehmer – zumindest für mich.

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  2. Ihr trefft es beide genau. Das führt soweit, dass ich manchmal genau solche Anlässe (oder auch Gesellschaften) vermeide, in denen ich in diese Zwickmühle kommen muss. Ist für mich manchmal der bessere Weg!

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  3. Hmm, also ich flüster auch nicht. Aber einfach weil ich keine Lust dazu hab. Bei mir bekommen also auch alle mit, wenn ich erzähle, dass man in der Tram erst aussteigen lässt, dass es heut kein Süß gibt etc pp. Aber das andere denken könnten, ich erziehe nur für die Öffentlichkeit bin ich noch nicht gekommen. Warum sollte ich flüstern? Wenn ich mich unterhalte flüstere ich in der Regel ja auch nicht

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  4. Liebe Anonyma, das mit der Show-Erziehung merkt man z.B. daran, dass die Kinder selbst komplett ratlos und verwirrt sind, weil sie plötzlich Dinge tun sollen, die sonst immer völlig egal waren. Oder an den beifallheischenden Seitenblicken der Eltern zum zufällig anwesenden Publikum. Oder an der unnötig lauten Stimme, mit der demonstrativ z.B. ganz genau und kindgerecht erklärt wird, wieso XY jetzt plötzlich verboten sein soll. Ich kann es auch nicht näher beschreiben - aber doch, ich bin mir sicher, manche Eltern erziehen weniger für die Kinder als für die anderen Erwachsenen. Liebe Grüße!

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  5. Hallo Flora, ich lese deinen Blog nun schon ne Weile und bin quasi ganz am Anfang der Kinderwunschbehandlung. Damals hattest du mal einen Stammtisch für Kinderwunschdamen ins Leben gerufen. Gibt es den eigentlich noch? Hätte nämlich mal Lust, mich mit Gleichgesinntenn auszutauschen : ) LG

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  6. Liebe Flora! Ich wünsche Dir und Deiner Familie FRÖHLICHE WEIHNACHTEN und viel Glück im NEUEN JAHR !!! Unglaublich, dass Du mittlerweile ja schon fast ne Großfamilie hast! :-) Dein Buch hat mich damals vor der ersten IVF sehr inspiriert. Inzwischen haben wir eine gesunde Tochter. Der 1. Anlauf für ein weiteres Kind hat gerade leider nicht geklappt. Aber wir starten im Frühling weiter. Freue mich schon auf viele weitere Beiträge mit der Dir eigenen humorvollen Ironie! ;-) Lilly

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