Mittwoch, 7. April 2021

Irgendwo zwischen Narzissmus und Schmiersuff.

Zu dem Thema ist schon ziemlich alles gesagt und geschrieben worden: ist das nicht komisch, dass man sich erst in dem Moment eines Alkoholproblems verdächtig macht, wenn man nichts mehr trinkt? Jaja, komisch ist das. Merkt man nicht erst dann, wie aufdringlich und überall Alkohol in unserem Alltag ist, wenn man nach ein paar Wochen ohne ihn mit offenen (und weniger rotgeäderten) Augen durch die Welt geht? Ja, das merkt man erst dann. Auf einmal fällt einem trotz vorschriftsmäßiger Corona-Maskierung überall und trotz Abstand auf, wie viele Leute, die "nicht danach aussehen", mittags um 12 im Supermarkt nach Sprit riechen. Doch doch. Ist nüchtern bleiben nicht ein Muskel, den man erst mal wieder entdecken und trainieren muss, aber dann? Mhmmm-mhmmm, schon schon.

Es stimmt einfach: ein paar Dinge hatte ich genau so erwartet und erhofft, und jetzt sind sie eben so. Ich hab wirklich bessere Haut, es gibt tatsächlich Tage, da setze ich mich ohne irgend eine Form von Make-Up in Videomeetings mit meinen Bossen. Ich schlafe (nach ungefähr drei ziemlich miesen Wochen am Anfang) für meine Verhältnisse großartig. Sogar so großartig, dass ich inzwischen so richtig durchdrehe und manchmal nachmittags um drei noch einen Kaffee trinke, denn ich weiß, dass ich nicht von halb zwei bis halb sieben schlaflos und genervt daliegen werde - die Schlafstörung klaut mir nur noch ein bis zwei Stunden pro Nacht, damit kann ich leben (und komme auf die Art wenigstens ab und zu zu meinen Lieblingsserien). Abgenommen habe ich kaum, aber das wär auch frech bei den Mengen an fettigem und süßem Kram, die ich immer noch esse, als wäre ich ein achtjähriger Bauarbeiter. Und niemand, der es nicht probiert hat, kann das Glück ermessen, einfach nie einen Kater zu haben. Nie! Im Nachhinein muss ich auch sagen, obwohl ich längst nicht jeden Tag getrunken habe und wenn, dann auch nicht immer in katerwürdigen Mengen, es gibt so etwas wie einen Grundkater. So ein Ächzen in den Fugen, das so allgegenwärtig war, dass es irgendwann mit der Seelenlandschaft verschmolzen ist. Ich dachte manchmal, so ist das eben, wenn man älter wird. Jetzt ist auch das weg. Einfach weg. Und ich hoffe, dass ich mich daran nicht genau so schnell gewöhnen werde wie an das Katerchen vorher und weiter zu schätzen wissen werde, wie schön es ist, einen richtig klaren Kopf zu haben und mit einer Packung Ibu monatelang auszukommen (Nüchtern zu sein, macht leider die Endometriose und die schlimmen Regelschmerzen nicht weg. Es kann viel, aber das nicht.)

Ein paar Dinge habe ich auch nicht erwartet, das sind die schönen Überraschungen. Diese gewisse Grundscham, die mich immer begleitet hatte - das Gefühl, im Grunde kein vollwertiger Erwachsener zu sein und bei nächster Gelegenheit aufzufliegen - ist weg. Nur noch eine ungute Erinnerung. Fairerweise muss ich aber zugeben, das hatte ich schon als Kind und erst Recht als Teenie, obwohl ich erst mit Anfang 20 angefangen habe, ab und zu Alkohol zu trinken - dem bösen Alk kann man also nicht allein die Schuld daran geben. Ich gebe ihm aber schon eine Mitschuld daran, dass das später nie so richtig weg gegangen ist. Mein Job besteht zu großen Teilen darin, mir Dinge auszudenken, auf die möglichst noch nie jemand gekommen ist, oder altbekannte Dinge auf völlig neue Art zu sagen. (im Idealfall. An manchen Tagen besteht er auch darin... aber lassen wir das für heute.) Ich hab also das große Glück, für mein Fusselhirn bezahlt zu werden. Und ich hatte schon ein bisschen Sorge, es könnte etwas weniger fusselig werden, wenn ich so gar nichts mehr trinke. Das ist nicht passiert, für einen Job, der mich früher einen Tag gekostet hat, brauche ich jetzt drei Stunden, obwohl die Kinder alle 30 Sekunden reinkommen und was wollen. Und die positivste Überraschung von allen ist, wie einfach das bisher war. Corona hat bestimmt geholfen: wenn ich nicht so oft mit lustig angespritteten Lieblingsmenschen sitzen kann, geht die Versuchung gegen Null. Aber ich hatte ehrlich erwartet, lange Winterabende, italienisch kochen, Musik, Weihnachten, Jobfrust, Ehefrust, Coronafrust wären härtere Gegner, ich müsste öfter auf meinen Händen sitzen oder spontan das Haus verlassen, um dem Ruf des Rosé auf Eis zu widerstehen. Ist bisher nicht passiert. Es gibt schon solche Momente, da packt mich eine leise Melancholie und ich langweile mich für ein paar intensive Minuten so schrecklich doll und vermisse den ganzen Spaß so, dass es weh tut. Aber ich bleibe ein braves Mädchen und "reite die Welle", was auch immer man darunter versteht - ich verstehe darunter, ich guck mir selbst beim Vermissen genau zu und denke mir dabei: so ist das also. Das ist ja interessant. Mal gucken, wie wir damit fertig werden. Und dann ist es vorbei.

Genau hier wird es glaube ich Zeit für einen harten Bruch. Wer das vorige gelesen hat, fragt sich vielleicht gerade: Moment mal, wie schlimm war es denn vorher? Mal in Weinflaschen pro Woche ausgedrückt? Sollte sie das alles vielleicht lieber in einem Kirchenkellerraum voller Klappstühle erzählen statt hier im Blog? Und dazu sage ich: ich fand es schlimm genug am Ende, um es einfach mal zu lassen. Aber ich habe das hier eher getan aus Angst davor, dass es richtig schlimm werden könnte also darum, weil es schon so schlimm war. Ich habe nicht jeden Tag getrunken, auch nicht jeden zweiten oder dritten. Ich hatte zwischendurch ganze Wochen ohne einen Tropfen. Aber schon allein die Tatsache, dass ich diese Wochen gezählt habe und stolz darauf war, werte ich als nicht so dolles Zeichen (vielleicht ist das alles auch der oben erwähnten Grundscham geschuldet - eine Menge, die andere sich einfach genehmigen, macht mir ein extrem schlechtes Gewissen, obwohl ich immer wild entschlossen war, mir auf diesem Gebiet alles zu erlauben - bei einem kleinen Teil meines Fusselhirns war diese Losung nie so richtig angekommen. Dazu kommt noch, dass meine Kater immer zu 70% aus chemisch erzeugtem schlechten Gewissen bestanden. Oh Gottogott, ich schüttele mich, wenn ich nur daran denke. Alle meine Freundinnen können ein ziemlich tristes Lied davon singen, wie ich am nächsten Tag immer achtzigmal hören muss, dass wirklich alles ok war, nichts war schlimm oder peinlich, die Welt wird dich nicht über die Kante ins Leere verstoßen, das ist nur ein Kater.) Meine Angst war nicht die von Woche zu Woche schwankende Menge. Sondern, dass ich mit dem ersten Glas einfach nicht mehr zuständig war. Es gab Tage, da saß ich mit den Mädchen zusammen und hätte ohne weiteres eine Flasche Wein oder mehr trinken können, und es wäre nichts Schlimmeres passiert, als dass ich eben am nächsten Morgen meine Kinder mit Kopp hätte versorgen müssen, und trotzdem habe ich zwei Gläser getrunken und bin dann nach Hause gegangen. Es gab auch Abende, da hatte ich innerhalb von einer Stunde einen nicht mehr einholbaren Vorsprung und erzählte nur noch Blödsinn. Welche Sorte Abend das werden würde, entzog sich meiner Kontrolle. Und dann kam Corona. Und es gab jeden Tag einen Grund, sich Abends ein Glas Wein einzuschenken. Ich hab es nicht jeden Abend getan, aber ich hab jeden Abend Bock drauf gehabt. Und es wurde anstrengend, denn ich sah am Horizont deutlich ein Bild von mir, die sich jeden Abend einen reinschmiert, ist ja Corona, dann Reue und Trotz und Zank und Selbstmitleid und Kopfweh, und dann am nächsten Tag das Ganze wieder. Und auf dieses Bild - die fiese Schmiersuff-Flora - hatte ich keine Lust. Und bevor ich es mit einem Plan versuche wie "drei Gläser pro Woche" oder "5 Tage trocken, 2 Tage Party" hatte ich auf einmal die Idee, es doch einfach mal ganz zu lassen. Das war in dem Moment kein fieser, sondern ein ganz fröhlicher, schöner Gedanke - er fühlte sich an wie eine gute Idee, und das Gefühl hat sich bestätigt und hält bis heute an. Meistens. Bin ich also Alkoholikerin? Ich sage nö. Hatte ich ein Alkoholproblem? Definitiv. Habe ich das immer noch? Ich finde nicht. Wieso dann das ganze Drama? Das Drama ist ein gutes Stichwort: fast am meisten verblüfft mich - über alle Veränderungen hinweg - wie viel sich ändert. Was für ein Erdrutsch das körperlich und seelisch ist - und das selbst dann, wenn man vorher kein harter Trinker war. Wie gewaltig diese Veränderung erst ist, wenn man am Ende ohne Pegel nicht mehr konnte, kann ich mir kaum vorstellen. Ich glaube inzwischen, selbst bei Leuten, die wirklich nur zwei Gläser Wein pro Woche trinken, würde es eine spürbare Veränderung geben. Sollte es darum jeder mal probieren? Keine Ahnung, obwohl ich hier gerade einen meterlangen Post dazu schreibe, bin ich immer noch ein fanatischer Anhänger des Nicht-Reinquatschens. Werde ich irgendwann wieder trinken? Wer weiß? Im Moment hab ich keine Lust drauf. Wenn ich es irgendwann tue, sollte es sich nicht anfühlen wie eine Niederlage. Fehlt mir das Trinken? Manchmal ja, sogar sehr. Ist mir inzwischen sogar der Gedanke an ein Glas eisgekühlten Sprit zuwider? Leider nö, das funktioniert bei mir genau so wenig wie der "In der Schwangerschaft findest Du Zigaretten und Alkohol plötzlich nur noch eklig, das ist die große Weisheit der Natur"-Kram. Kann ich denn ernsthaft im gleichen Post schreiben, dass ich es erstaunlich einfach finde, nichts zu trinken und mich fühle, als könnte ich Bäume ausreißen, und dann wieder, dass es mir der ganze Quatsch echt fehlt und ich vielleicht eines Tages doch wieder trinken werde wie der Rest von uns? Ja, kann ich, das passt zwar vielleicht in eurem Kopf nicht zusammen, aber in meinem schon. Wenn ich dahinter gestiegen bin, wie genau, sage ich es euch.

Mir ist das Lager der Leute, die sich ab und zu über die seriöse Grenze weg anschickern und dann teils lustige, teils dämliche Dinge tun, immer noch sehr nah (Wobei ich wie wir alle das Kunststück fertig bringe, all die Besoffen-Autofahrer, Besoffen-Frau-und-Kinder-Verprügler und Besoffen-Angrabbeler fein säuberlich und völlig irrational aus diesem Lager rauszusezieren und anderswo aufzubewahren...). Näher als das Yoga-und-Achtsamkeits-Dings jedenfalls, das gefühlt oft ein untrennbarer Teil der großen Nüchternheits-Wundertüte zu sein scheint. Ich kann mir nicht helfen, ich sehe auf dieser Seite immer häufiger einen Narzissmus, den ich eklig finde. (Bei einem meiner nächtlichen Spaziergänge aus der Zeit vor der Ausgangssperre kam ich neulich an einem Yogaladen vorbei, der hatte draußen ein Klappschild stehen, auf dem stand wahr und wahrhaftig: "You are the only thing in the universe that matters." Auf der Rückseite stand "You are a beautiful genius. You will live forever!" Mit solchen Klappschildern will ich nichts zu tun haben. Was ich aber gerne zugebe, ist dass Yoga gut für'n Rücken ist.)

Vielleicht könnte ich diesen nicht-Drogen-induzierten Laberflash ja folgendermaßen zum Punkt bringen: an bösen Tagen hab ich das Gefühl, ich bin gefangen zwischen Skylla und Charybdis in Form von drohendem Schmiersuff auf der einen Seite und ungebremstem Narzissmus auf der anderen. An guten Tagen denke ich: wie schön ist das denn? Ich habe die Wahl zwischen einem katerfreien, sonnigen knallgesunden Wunderland und der Rückkehr an den großen, reich gedeckten Partytisch. Und irgendwo dazwischen fühle ich mich zuhause.

2 Kommentare:

  1. Vielen Dank für das mutige und ehrliche Aufmachen des Themas.
    Ich mag Deine Fahrt aufnehmenden Gedankenstraßen und Deine Bilder erzeugende Sprache und die Art, sich selbst auf die Schippe zu nehmen. Danke dafür. Ich möchte gerne meine Erfahrungen ebenfalls solidarisch teilen. Denn ich denke, das Thema betrifft viele aber gesprochen wird wenig darüber.
    Ich kenne das emotionale Katerphänomen auch nur zu gut. Mittlerweile ist es unter dem allein schon deshalb bei mir Scham auslösenden Namen „Hangxiety“ bekannt. Aber die Erklärung der Entstehung des Phänomens hilft mir tatsächlich. Zu wissen, dass Veränderungen von Neurotransmitterkonzentrationen dazu führen, dass man sich ängstlich, unsicher und beschämt fühlen kann, entlastet mich dahingehend, dass diese unangenehmen Gefühle erklärbar sind und nicht wieder in meinem verworrenen Inneren ein Eigenleben entwickelt haben und mir eine lange Nase zeigen. Meine Scham wird also aufgrund von biochemischen Vorgängen erzeugt. Bestimmt aber auch aufgrund der Tatsache, dass ich unter Alkoholgenuss den extravertierten Teil von mir aus dem Käfig lasse. Und da dieser so wenig Auslauf hat, genießt er seine kurzlebige Freiheit nach Strich und Faden. Und alle können es und ihn sehen. Da kann ja nur etwas Peinliches dabei herauskommen. Menschen, die mit Symptomen von Angststörungen und Depression zu tun haben scheinen häufiger betroffen zu sein von diesem Phänomen. Ich könnte mir ebenfalls gut vorstellen, aber Achtung, das ist meine These, dass Menschen, die sich in dem psychologischen Konzept der mentalen Hocheffizienz wiederfinden, ebenfalls diese Nebenwirkungen kennen. Da sie sehr reizsensitiv sind und Veränderungen im Körper stärker wahrnehmen.
    Deine Sympathie für Menschen, die sich nicht immer unter Kontrolle haben (wollen), teile ich ebenfalls zu 100%. Lieber torkele ich mit geballter und gen Himmel gereckter Faust, Arm in Arm mit meinen marginalisierten und allein auch deshalb schon die Alklegitimation im Gepäck habenden Freund*innen durch die Straßen und fühle mich dabei frei und gut. Für die richtige Sache kämpfend und sich auch im Alkohol miteinander verbindend ist mir lieber, als alleine auf einem Handtuch im Gras sitzend mit der Überzeugung, ich könnte mich mit mir selbst zufriedengeben und zu wissen, wer ich bin und was ich haargenau und in welchem Moment von wem brauche. Das habe ich bisher immer als Arroganz gelabelt, Narzissmus passt aber eigentlich auch gut.
    So ungefähr fühlt es sich an, wenn ich wieder mal die möglichen Copingstrategien für mich abwäge. Ein nicht unerheblicher narzisstischer Anteil lässt interessanterweise immer wieder dahin denken, dass die Torkelstrategie die bessere wäre. Böse Stimmen in mir sagen dann, das komme daher, dass ich mich nicht mit meinem von Selbstzweifeln durchfressenen Ich auseinandersetzen wolle. Denen schenke ich dann immer ordentlich ein.
    Tatsächlich trinke ich nicht regelmäßig, am Wochenende ab und an mal ein paar Gläser Wein. Ich mache auch gerne Meditationsübungen, vor allem Atemübungen und Body2Brain und finde sie großartig.
    Wenn ich mich guten Mutes mal wieder mit mehreren Aufgaben und Projekten überlade und mit Hohn auf meine Grenzen schaue, bis ich in ein „Das-ist-mir-alles-zu-viel-Loch“ falle, kommen ähnlich böse Stimmen wieder wie: „Ich komme nicht mit mir klar. Ich bin überhaupt nicht belastbar. Ich kann mich überhaupt nicht leiden. Kein Wunder, wenn andere es auch nicht tun.“ Und schon ist der arme extravertierte Teil wieder eingesperrt bis zum nächsten kurzen Freigang. Das ist ein arschgemeiner Teufelskreis. Den ich versuche zu durchbrechen, mit ein wenig gutem Wein und viel Achtsamkeits- und Atmungsübungen. Und dem Mantra, die anderen müssen mich gefälligst so nehmen wie ich bin. Mit all meinen tausend Fehlern und meinen zweitausend Stärken. Vielleicht klappt es. Ich drücke mir die Daumen. Und jeder und jedem, der es auch versucht. Mit welchem Narzissmus auch immer.
    Vielen Dank Dir für dieses Thema. Bitte mehr davon.

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  2. Zum Thema Endometriose: Seit der Geburt meiner Tochter bekomme ich von meiner Frauenärztin eine Endometriose-Pille. Keine Regel und keine Regelschmerzen mehr. Und ein Eisenwert, der nach vielen, vielen, vielen Jahren endlich im Normalbereich ist. Zusätzlicher Vorteil: ist verschreibungspflichtig und kostet mich nur die Verpackungsgebühr. Nachteil: ist eigentlich nicht zur Verhütung.

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