Samstag, 19. März 2022

Besser dran als z.B. Theon, Cat oder Jaime

Ich habe so gut wie nie Fotos von mir auf diesem Blog veröffentlicht, aber heute könnte ich das eigentlich ohne Bedenken tun. Auf meinem Kopf ist eine Haube, die ungefähr die Form hat, die im 15. Jahrhundert die Hauben von Nonnen hatten. Sie beginnt auf Höhe meiner Augenbrauen, umschließt den ganzen Kopf und ist mit einem breiten Streifen unterm Kinn befestigt. Unter der Haube sieht man Drähte, die am Hinterkopf in einer Art Schlauch aus Verbandsmaterial gebündelt sind. Dann noch die Maske. Vermutlich hätte selbst meine Mutter Schwierigkeiten zu erkennen, dass ich das bin. Das ganze Gelöt wurde heute morgen an meinem Kopf befestigt, und mich hat es stark an sehr, sehr alte Zeiten erinnert, als man sich unter Mädchen manchmal gegenseitig einen Bauernzopf geflochten hat.

Vier Nächte lang bin ich jetzt auf einer Station, auf der tatsächlich Tag und Nacht ein EEG mitläuft. Ich hoffe, ich überstehe die vier Tage, ohne einfach die Drähte zu vergessen und sie so abzureißen, das wäre blöd. Ich hoffe auch, dass meine Haare nicht zu fettig werden in der Zeit und dass ich schlafen kann damit. Was ich davon abgesehen hoffen soll, weiß ich nicht so richtig. Folgende mögliche Ausgänge dieses Klinikaufenthaltes fallen mir jetzt gerade ein:

1. Es stellt sich heraus, dass ich tatsächlich eine Form von Epilepsie habe, und es gibt ein Medikament, das mich vor weiteren Anfällen jeder Art bewahrt. Das Medikament hat nach ein paar Tagen keine erkennbaren Nebenwirkungen mehr und wirkt tatsächlich. Nach einer kurzen Phase, in der ich dem Frieden noch nicht so richtig traue, lasse ich das fiese E hinter mir und kann bald wieder allein Schwimmen gehen, Wandern gehen, kaufe mir ein neues Lastenrad und, wer weiß, kann vielleicht eines Tages wieder Auto fahren?

2. Ich habe zwar Epilepsie, aber es ist nicht so einfach, das richtige Medikament dagegen zu finden. Vielleicht vertrage ich es nicht gut. Vielleicht fährt es nur die Wahrscheinlichkeit von Anfällen herunter, aber sicher sein kann ich mir nie wieder. Vielleicht ist für diese Sorte ein Medikament einfach nicht genug. Diese Möglichkeit, ich weiß nicht, wie's Euch geht, klingt für mich nicht erstrebenswert.

3. Ich habe keine Epilepsie, sondern meine Probleme haben eine andere Ursache. Diese Ursache wird aber schnell gefunden und lässt sich auch gut beheben.

4. Ich habe keine Epilepsie, es gibt eine andere Ursache, und diese Ursache stellt sich als ein ganz neues, frisches Problem heraus. Wenn das passiert, sehen wir weiter.

5. Ich habe jedenfalls keine Epilepsie, aber es ist auch nicht zu erkennen, was sonst los ist. In knapp zwei Wochen fahre ich nach Hause, und wir sind kaum schlauer. Ich muss weiterhin all das sein lassen, was ich in den letzten zehn Monaten schon gelassen habe. (Wenn ich zum Beispiel mal baden will, muss ein Kind Wache schieben und notfalls schnell Papa rufen. Schwimmen nie allein. Dreimal überlegen, ob ich wirklich den Porzellanladen betreten will. Usw.) Auch diese Möglichkeit will ich nicht.

Müsste ich jetzt, in diesem Moment, eine Wette abschließen, würde ich auf Möglichkeit 5 setzen. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich mich hier über weite Strecken wie eine Simulantin fühle. Viele Mitpatienten, die ich hier auf dem Flur gesehen habe, sind offensichtlich in jeder Hinsicht schlechter dran als ich. Mir geht's gut, ich hänge Stinkfaul herum, gucke aus dem Fenster, lese, schreibe, glotze die zuhause schon runtergeladenen Folgen Game of Thrones, und auch in Game of Thrones geht's fast allen schlechter als mir. (Ok, sagt ihr vielleicht, wenn DAS die Messlatte sein soll...) Ich habe mir einen schicken Pukka-Tee mitgebracht, den schlürfe ich. Ich hab sogar mein Yogazeug dabei in der Illusion, ich würde ausgerechnet hier über Tag zwei einer der 30 Tage-Yoga-Challenges herauskommen (aber zweimal hab ich die Matte schon ausgerollt! Ehrlich!). Ich hab meinen Rechner und meinen Kindle und mein Telefon und meine Bücher, und vorgestern hat eine Freundin mir einen riesigen und wunderschönen Blumenstrauß geschickt, der steht jetzt auf der Fensterbank. Dreimal am Tag bekomme ich etwas zu Essen, zwischendurch knuspere ich Reiscracker und Nüsschen. Das ist doch nicht krank! Meine Mutter versorgt meine Tochter, L. kümmert sich um die Jungs, in der Agentur haben sie einen sicher stinketeuren Freelancer an meiner Statt gebucht, und bei meiner Krankenkasse glüht der Zähler mit den Gesundheitskosten, die ich diesem wackeren Laden schon verursacht habe. Und hier sitze ich, beömmele mich über meinen Kopfschmuck und trinke Pukka Joy Tee. So viel Freundlichkeit, Sorgfalt, Fachwissen, Einsatzbereitschaft - ich kann nicht anders als mich als Schwindlerin zu fühlen. Ich muss mich tatsächlich immer wieder dran erinnern, dass das wirklich passiert ist damals im Mai. Und das andere danach auch. Dass ich wirklich Angst deswegen habe. Dass ich wirklich seitdem furchtbar schreckhaft bin. Manchmal gehe ich die Straße entlang, und neben mir auf dem Radweg fährt jemand vorbei, und ich zucke zusammen wie in der Geisterbahn, weil er eine bunte Jacke trägt, mit der ich nicht gerechnet hatte. Oder der Wind weht ein Papier vorbei, und mich trifft fast der Schlag. Oder jemand spricht. Oder ein Krankenwagen macht die Sirene an, und ich würde mich am liebsten auf den Boden werfen, die Hände über dem Kopf. Fast alles fühlt sich plötzlich so an, wie wenn man eine Treppe runterläuft und mit einer Stufe mehr gerechnet hätte, als tatsächlich da ist. Und jetzt hoffe ich einfach weiter schwer, die geballte Intelligenz, Empathie und Fachkenntnis der Leute hier kommt diesem Zustand auf den Grund.

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