Freitag, 25. Dezember 2009

Zweinachten

Bei uns zuhause geht Weihnachten so:
Der Baum liegt seit Tagen hinterm Haus. Wenn es geschneit hat, klebt Schnee an den Zweigen, wenn es geregnet hat (ratet mal, was häufiger vorkommt) mit undefinierbarem braunem Schmodder vermischte Tropfen. Gegen zwei geht mein Vater in seiner Traditionsdaunenjacke hinters Haus, flucht ein bisschen und kommt drei Minuten später mit dem Baum ins Zimmer, während meine Mutter (klüger geworden mit den Jahren) sich an dem Punkt des Hauses beschäftigt, der am weitesten entfernt ist. Wegen des uralten Weihnachtsbaumständers, der noch nie richtig funktioniert hat, aber trotzdem nie ausgetauscht wird, dauert das Aufstellen ca. eine Stunde. Wichtig ist nicht nur, dass der Baum gerade steht, sondern die schönste Seite muss auch noch nach vorne zeigen, und trotzdem muss die hässlichste Seite ganz nach hinten, und die schönste und die hässlichste Seite liegen sich selten direkt gegenüber. Steht der Baum, wird er mit einem Gespinst von Angelschnüren fixiert, in die jeder von uns über die Feiertage mindestens einmal reinrennt. Dann plaziert mein Vater noch an mehreren Punkten des Wohnzimmers einen Eimer Wasser, man kann nicht vorsichtig genug sein.
Jetzt ist die Aufgabe meiner Mutter in der Waschküche/im Keller/im Kinderbadezimmer plötzlich erledigt, und sie kommt dazu, lobt den Baum und vor allem meinen Vater, wischt unauffällig den Schnee-und-Nadel-Matsch weg, und wir gehen in den Keller, um die acht Pappschachteln zu holen, in denen wir unseren Weihnachtsbaumschmuck aufbewahren. Seit ich über 30 bin, darf ich nämlich schmücken helfen und muss nicht mehr aufgeregt in meinem Zimmer sitzen, bis alles fertig ist. (Wie das bei ältesten Geschwistern oft ist, haben mein kleiner Bruder und meine kleine Schwester automatisch zur gleichen Zeit gleiche Rechte dazugewonnen.) Früher hat meine Mutter kleine rote Äpfel mit Speck eingerieben und an roten Schleifen an den Baum gehängt, aber während der Jahre, in denen wir einen Hund hatten, ist sie davon abgekommen, aus Angst, eines Morgens den Hund mit dem kompletten Baum im Schlepptau in seinem Körbchen zu finden, die Pfoten im Schlaf liebevoll um einen Speckapfel gewickelt. Also Äpfel ohne Speck, bunte Figürchen aus dem Erzgebirge, dicke grüne Kerzenständer und rote Kerzen. Wir sind ein Haushalt, in dem die elektrische Kerze noch nie auch nur einen Zentimeter Boden erobert hat, und das wird auch immer so bleiben. Ganz oben an die obersten Zweige unter der Spitze kommen der Engel in der Sonne und der Engel in der Wolke, sonst haben wir freie Hand. Weil es inzwischen sehr viele Figürchen sind, dauert das Schmücken eine Stunde. Langsam wird es dunkel, und meine Schwester kommt von ihrer Tour durchs Örtchen zurück, wo sie ihren 80 Freunden aus der Schulzeit Geschenke gebracht hat. (Mein Abijahrgang war größtenteils doof, Ausnahmen sind weggezogen oder in einem Fall inzwischen mit einer Frau verheiratet, die mich für vollkommen verrückt hält. Daher kann ich mich zuhause auf die Familie konzentrieren.) (Nun guckt nicht so, ich hab Freunde, massenhaft! Nur eben nicht in meinem Heimatdorf! So!) Jetzt verkriechen meine Schwester und ich uns in unserem alten Zimmer, bedrucken Packpapier mit selbstgeschnitzten Kartoffelstempeln (einmal haben wir sogar ein Rentier mit Geweih hingekriegt, während wir früher noch nicht mal einen Stern mit mehr als zwei Zacken - also genau genommen keinen Stern - schnitzen konnten, wir werden immer besser), sauen uns vollkommen ein und sitzen am Ende vollkommen fertig vor einem Stapel verpackter Geschenke. Dann ziehen wir uns an und schminken uns, während mein Bruder, der im Familienkreis plötzlich jedes Mal wieder 15 ist, vor dem Badezimmer rumkaspert und abwechselnd wissen will, ob der Anzug zu eng und er zu dick ist, und sich über unsere Schminkerei lustig macht. Meine taktvolle 48-Kilo-Schwester lobt meine Schuhe (immer klug bei Frauen mit Hormonquatschfigur), wir ordnen die Geschenke zum achten Mal (ich habe jedes Jahr bis zur letzten Sekunde Angst, ich hätte jemanden vergessen), ich schreibe noch eine Weihnachtsmail an eine alte Freundin, die ich zuletzt auf der Hochzeit und davor ca. zu Kriegsende gesehen habe, und dann ist es Zeit: Licht aus, Baum an, alle laufen in feierlicher Prozession die Treppe runter ins Wohnzimmer, bauen ihre Geschenke in nach Empfänger geordneten Häufchen auf, meinem Vater fällt jetzt plötzlich ein, in den Keller zu laufen und eine Flasche Sekt zu holen, und dann stoßen wir an, mit den großartigen alten Sektschalen meiner Eltern, die nur zu Weihnachten benutzt werden. Alle wünschen sich frohe Weihnachten, es gibt Küsschen links und Küsschen rechts und einen rührend verklemmten Händedruck/Schulterklopfer mit meinem Bruder, und wenn alle dem Baum ein Kompliment gemacht haben, dann darf der Jüngste anfangen. Das war früher mal der Hund, der immer ein in Geschenkpapier verpacktes Würstchen auspacken durfte. Jetzt ist es meine Schwester. Sie hat, wie gesagt, 80 Freunde im Dorf, alle schenken ihr etwas, es dauert Stunden. Gelegenheit für uns, mehr Sekt zu trinken. Dann kommt mein Bruder dran, der am schwierigsten zu beschenkende Mensch in der Familie, meistens gibt es von meiner Schwester und mir etwas mit Sportbezug und von meinen Eltern Hemden oder Krawatten oder sowas, der Ärmste, aber er scheint sich zu freuen. Dann ich, meine Mutter und mein Vater. (Mein Vater spielt eine ganz eigene Rolle bei der Bescherung, als letztes Jahr L. zum ersten Mal dabei war, konnte ich ihm exakt wie bei der Trueman Show auf die Sekunde vorhersagen, in welchem Moment er mit Schere und Weidenkorb anrückt und uns antreibt, das Geschenkpapier ordentlich zu entsorgen und was er dann als nächstes sagt und tut. Am 24.Dezember ist mein Vater ein gut funktionierendes Uhrwerk.) Und dann geht meine Mutter in die Küche und rührt ihre großartige, ungeschlagene Cocktailsauce zusammen, außerdem macht sie Sahnemeerrettich, denn bei uns gibt es zu Weihnachten seit achtzehn Jahren Lachs, Krabben, Bündner Fleisch und hinterher rote Grütze. (Vorher gab es achtzehn Jahr lang Fleischfondue, bis meine Familie es leid war, dass mein Vater und ich uns jedes Mal in die Wolle kriegten, weil ich so wahnsinnig viel davon essen konnte und er sich laut Sorgen machte, was das mit meinem damals auch noch ca. 45-Kilo-Körperchen anrichtet. Auch hier: Papa, das Weihnachtsuhrwerk. Übrigens ist der Plan trotzdem nicht aufgegangen, denn es zeigte sich: auch von Krabben, Lachs und Bündnerfleisch kann ich irre Mengen verdrücken. Aber wenigstens ist dabei kein brennendes Rechaud im Spiel, das von meinem Vater mit Feuerwehrhauptmannhaftem Eifer bewacht werden muss.)
Nach dem Essen tragen wir das heilige Weihnachtsporzellan in die Küche, räumen ein bisschen auf, ziehen unsere Weihnachtsschlafanzüge an, zünden die Kerzen am Baum noch mal an und setzen uns zwischen unsere Geschenke, um noch ein-zwei-drei Gläser Wein zu trinken und die ersten Seiten unserer Weihnachtsbücher zu lesen. Und am nächsten Morgen treffen meine Schwester und ich uns traditionell unterm Baum und essen eine Schüssel rote Grütze.
So geht Weihnachten bei uns. Obwohl es weder Gesang noch Kirchgänge einschließt, habe ich doch inzwischen das Gefühl bekommen, so und nicht anders muss Weihnachten sein.

Jetzt zeigt sich, Weihnachten geht auch anders. Wie genau, schreibe ich, sobald sich der Tippkrampf in meiner linken Hand gelegt hat. Aber ich kann schon mal sagen: der Bauch hat mir nichts getan. Überhaupt nichts!

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