Dienstag, 3. Juli 2012

Eine kleine Sprite und ein Pfefferspray bitte

Es würde meine Mutter freuen, das zu lesen: die Jahre meiner Teenie- und frühen Zwanzigerzeit, in denen andere sich in die Notaufnahme saufen, habe ich weitgehend nüchtern zugebracht. Nicht aus moralischen Gründen, aus Prinzip, aus Ekel vor den Effekten, die bei anderen zu beobachten waren, oder aus Sorge um meine Gesundheit. Es hat mich einfach nicht weiter betroffen. Alkohol auf Partys war für mich ungefähr so, als wäre man irgendwo eingeladen, wo alle ganz aus dem Häuschen sind, weil es im Keller einen Squashplatz gibt. Ich hätte mir den Squashplatz noch nicht mal angesehen. Ich war auch nicht angewidert über andere, die sich für squashen interessierten - Squash war für mich einfach kein Thema.

Wenn ich so drüber nachdenke, hat mir das eine Menge Ärger eingebracht. Es führte nämlich dazu, dass ich fast immer gefahren bin. Ich war nicht nur nüchtern, sondern hatte auch ein mühsam im Altersheim zusammengebuckeltes Auto, damit war die Sache klar. Und das brachte Gefahren mit sich, die betrunkenen Kollegen erspart blieben. Da war zum Beispiel die Silvesternacht, in der ich morgens gegen vier mit drei Freunden auf der Landstraße unterwegs nach Hause war. Ich hatte um Mitternacht kurz meine Lippen an einem Sektglas benetzt, bevor das wieder Genänger gibt, und das war es gewesen. Zehn Minuten nach dem Aufbruch krachte eine vollkommen besoffene 50jährige Frau mit ihrem Renault in meine Ente, und zwar genau an der Stelle, an der ich saß. Es ging alles furchtbar schnell, eben grölten wir noch fröhlich zu "Tausendmal berührt" aus dem Radio, und drei Minuten später standen wir zitternd, bleich und zum Glück ohne ein gekrümmtes Härchen am Straßenrand und starrten fassungslos auf das Wrack, das sich auf der anderen Straßenseite aus seinem Wrack übergab. Ich kann bis heute nicht fassen, dass das nicht mindestens mit einer Querschnittslähmung endete. Hätte ich damals sicher verstaut auf der Rückbank eines grundsoliden Mercedes Dieseltaxis gesessen, würde mich das weniger wundern. Ein anderes Mal hatte ich alle auf eine Freiluftparty irgendwo auf einem Acker gefahren, und es endete damit, dass alle betrunken und/oder bekifft kichernd im Gras lagen und es irre komisch fanden, dass ich nur mit knapper Not der Vergewaltigung durch einen dämlichen Austauschschüler entging. Der übrigens echt enttäuscht und sauer darüber war, dass er auf der Rückfahrt nicht mitfahren durfte, wie spießig war ich denn drauf? Dann waren da die unzähligen Nächte, in denen wir 30 Kilometer oder weiter gefahren waren, um irgendwo tanzen zu gehen, bzw. ich. Ich war gefahren. Und meine Freunde, wesentlich cooler als ich natürlich, bequatschten mich jedes Mal, jeden noch so kaputten Tramper mitzunehmen, hielten sich ein Schwätzchen mit ihm und ließen sich fünf Minuten später irgendwo absetzen, woraufhin ich mit dem

a) harmlosen Rumhänger
b) irren Killer
c) unangenehm riechenden und etwas aufdringlichen Hand-aufs-Knie-Leger, der das klar als Zeichen wertet, dass Du ihn mitgenommen hast oder
d) Typen, dessen irres Gerede über Ausländer und Lesben und Russen ich mir noch zehn Kilometer weit anhören musste,

*** bitte wählen sie eine Möglichkeit streng nach dem Zufallsprinzip, liebe Abkürzungsdame, zu gewinnen gibt es nichts ***

noch einige Kilometer weit allein im Auto fahren musste. Das wiederum würde meine Mutter weniger freuen. Würde sie meinen Blog lesen, dann hätte sie noch jetzt, zwanzig Jahre später, vermutlich einen Herzinfarkt. Da zieht man ein Kind auf, gibt ihm Schwarzbrot und Vitamine, schickt es zur Klavierstunde und bindet ihm einen Schal um, und dann sitzt es nachts um drei mit einem Tramper auf der Landstraße im Auto, und das Ganze war noch nicht mal seine Idee, im Gegenteil, es war von Anfang an dagegen.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie oft ich mitten in der Kurve auf unbeleuchteter Straße rechts ranfahren musste, damit sich jemand aus der Tür übergeben konnte. Oder wie oft ich mit meiner motorisierten Coladose bei Glatteis oder sintflutartigem Regen nachts über die Autobahn gefahren bin, drei schnarchende Fähnchen um mich herum und das Quietschen des winzigen Scherzscheibenwischers vor der Nase. Einmal war ich in einer Januarnacht auf etwas gewesen, was mir als "Party, bring ruhig was mit, am Besten was zu trinken" angekündigt wurde. Mein Vater hat mich hingefahren, war ja nur über den Berg ins Nachbardorf, mich und meinen großen Kasten 0,5-Liter-Flaschen feinstes Spaten Bier. Ich trug Schuhe mit Ledersohle, eine Jeans und ein T-Shirt, darüber eine antike Wildlederjacke ohne Futter. Die Party bestand aus vier Menschen außer mir. Einer davon sollte mich eigentlich auf dem Rückweg zuhause absetzen, aber im Lauf des Abends wettete jemand fünf Mark, dass er sich nicht trauen würde, eine ganze Flasche Danziger Goldwasser auszutrinken, einen Schnaps, der zum Glück aus der Mode gekommen zu sein scheint und der im Nachhinein vermutlich ein bisschen wie Sambucca mit Blattgold ist, nur stärker. Er gewann die Wette, und ich sah meine Mitfahrgelegenheit auf unbestimmte Zeit ins Klo verschwinden. Daraufhin machte ich mich zu Fuß auf den Heimweg, zu Fuß mit einem dreiviertel vollen Kasten Bier. Inzwischen hatte dichtes Schneetreiben eingesetzt, und der Weg war viel länger, als ich ihn in Erinnerung hatte. Mit meinen Ledersohlen glitschte und stakste ich einen steilen Feldweg herunter, den tonnenschweren Bierkasten im Schlepptau. Fünfmal bin ich dabei hingefallen. Jede andere hätte irgendwann halt gemacht und zum Trost und gegen die Kälte drei Biere getrunken, ich nicht. Irgendwann war ich endlich zuhause und stellte fest, dass ich bei einem meiner Stürze den Haustürschlüssel verloren hatte. Ich klingelte. Die Klingel funktionierte noch nicht, wir waren erst vor zwei Wochen eingezogen. Ich klopfte. Niemand hörte mich. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis mir jemand aufmachte, und ich wollte immer noch kein Bier trinken. Es fiel mir einfach nicht ein, genau so wenig, wie ich jetzt Lust auf eine schöne Partie Squash verspürt hätte. Ich hätte erfrieren können, während die anderen vier selig und besoffen in einem Partykeller im Nachbardorf auf Matratzen vor sich hindämmerten und am nächsten Morgen, wie ich später erfuhr, gegen eins zum Frühstück zu McDonalds aufbrachen.

Heute, liebe Abkürzungsdamen, ist vieles anders. Das meiste hat sich zum Guten gewendet. Mama, ich weiß, Du liest das hier nicht. Aber wenn doch, beruhige Dich. Heute spiele ich zwar mit Begeisterung Squash. Aber der letzte Anhalter in meinem Auto ist fast 15 Jahre her.

2 Kommentare:

  1. Ehrlich, ich habe beim Lesen Tränen gelacht.
    Mir ist natürlich klar, dass es Dir weder damals noch jetzt beim Schreiben zum Lachen zumute war.
    Du hast es aber so wundervoll sarkastisch geschrieben. Die Stelle mit „Schwarzbrot und Vitamine“ hat mir besonders gut gefallen.
    Und ich wäre wahrscheinlich auch nicht auf die Idee gekommen, den doofen Kasten Bier einfach stehen zu lassen. (Der mich genauso wenig interessiert wie Dich auch.)
    Man macht eben viel zu oft dämliche Sachen, obwohl man es viel leichter haben könnte.
    Gruß
    SarahO

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  2. Flora, ich liebe Dich und Deine Schreibe!

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