Sonntag, 10. März 2013

Vergangenheitsbewältigung im Zeitalter der Mülltrennung

Als wir vor ein paar Wochen bei meinen Eltern waren und schon beim Aufbruch, kam mein Vater aus dem Keller angelaufen mit einer kleinen Pappkiste, in der früher mal irgend etwas Russisches verpackt gewesen war. Jetzt waren darin alte Fotos von mir, und obendrauf klebte ein Zettel mit der Aufschrift "Flora prüft". Die Kiste hat er mir mitgegeben. Gestern habe ich sie aufgemacht und durchgeguckt. Die meisten Fotos sind aus den ein-zwei Jahren nach dem Abi, und mit niemandem, der darauf zu sehen ist, habe ich noch irgend etwas zu tun. Zusammen waren wir Boot fahren mit riesigen ausgemusterten Bundeswehr-Schlauchbooten, die wir von den Pfadfindern geliehen hatten. Es gab Bilder von einer Tour über Ostern auf der Donau, wir stehen im Schneegestöber um einen Campingkocher herum und warten auf unseren lauwarmen Instantkaffee. Es gibt auch Bilder, auf denen meine damals beste Freundin Astrid mit ihrem Freund Andreas zu sehen ist. Er war in meiner Klasse und irgendwann auch mal in mich verschossen gewesen, aber ich konnte mich nie so richtig für ihn erwärmen. Irgendwann war sie dann die Freundin seines besten Freundes Jan, und an einem Wochenende im Ferienhaus seiner Eltern in der Pfalz, als Jan erst einen Tag später dazukommen konnte, sind die zwei Abends nach viel Getrinke und Gerede in einem der ausgemusterten Furnier-Jugendzimmer-Betten im Keller gelandet. Es hat noch zwei Monate gedauert, bis Jan das erfahren hat, und da war sie eigentlich schon mit Andreas zusammen. Auch von diesem Wochenende gibt es Fotos. Ich habe sie beim Durchsehen sortiert in "Behalten" und "Wegwerfen", und nach kurzer Zeit war klar, dass der "Wegwerfen"-Stapel viel größer wird. Seitdem frage ich mich: wieso ist mir das alles so wenig wert? So gut wie alle Erinnerungen, die beim Durchgucken kamen, waren nicht besonders schön. Sehe ich Bilder von Astrid, dann denke ich vor allem an ihre Macken - daran, dass sie immer nur aufblühte, wenn sich irgend ein Typ für sie interessierte - noch viel schlimmer, dass sie es nicht ertragen konnte, wenn er sich für eine andere mehr interessierte, und dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob dieser völlig beliebige Tropf ihr eigentlich egal war oder nicht, es ging nur um die wärmenden Sonnenstrahlen männlicher Aufmerksamkeit. Über ein Jahr lang ließ sie unseren spitzbärtigen, fipsigen und sturzlangweiligen Mathelehrer hinter ihr herstelzen und lästerte über ihn, ohne jemals auch nur das kleinste Bisschen zu tun, um ihn abzuweisen. Einmal hockten wir einen Abend lang zusammen, und hinterher auf dem Heimweg vertraute sie mir mit großer dramatischer Geste an, dass mein Schwarm ständig versucht hatte, den Arm um sie zu legen. Erst am nächsten Morgen wurde mir klar, dass er den ganzen Abend am anderen Ende des Zimmers verbracht hatte und dafür drei Meter lange Arme gebraucht hätte. Warum? Keine Ahnung, und irgendwann beschloss ich, dass der Grund mir egal war und ich mit diesem Unfug nichts mehr zu tun haben wollte. Weg mit den Astrid-Fotos also. Und bei der Gelgenheit auch gleich weg mit den Fotos von Andreas, der so dackeläugig gucken konnte und eine ganz treue Seele war, bis er auch nur die kleinste Menge Alkohol intus hatte - dann wurde er gerade zu seinen engsten Freunden unverzeihlich widerlich. Die ersten paar Semester Studium, langweilig und sinnlos - weg mit den Fotos. Von der großen Tour durch Finnland mit meinem ersten Freund habe ich ein paar Bilder aufgehoben, eins von meiner Schwester als kleines Mädchen in der Badewanne, ein paar von einem Wanderurlaub im Schwarzwald mit der Familie, zwei von unserem Hund am bretonischen Strand und ein paar, auf denen mein Zimmer von damals im Hintergrund zu sehen ist und an den Wänden aufgehängter Kram, den ich schon längst wieder vergessen hatte, und den Rest - den Rest brauche ich nicht mehr, der liegt jetzt in einem Papierkorb unter meinem Schreibtisch. Und immer noch frage ich mich, stimmt was nicht mit mir? Fotos nehmen doch nicht viel Platz weg und fangen auch bei langer Lagerung nicht an zu stinken, ich höre immer, wenn man eine Sache aufheben soll, dann doch wohl Fotos? Wieso regt sich da bei mir gar nichts? Warum habe ich damals so viel Zeit mit Leuten verbracht, die mir heute absolut unwichtig bis unsympathisch sind? War das alles gelogen? Habe ich mich so verändert? Ist das nicht traurig, wenn man überhaupt niemanden mehr kennt aus dieser Zeit? Oder kennen will? Gestern sagte L. über jemanden aus seinem Jahrgang, spätestens 2015 würde er ihn wohl sehen, dann hätten sie 25jähriges Abitreffen. Und ich dachte, zu meinem 25jährigen werde ich vermutlich nicht hingehen, und das nicht nur, weil es 600 Kilometer von hier entfernt stattfinden wird. Waren die wirklich alle so doof, und ich hatte das seltene Pech, im Idiotenreservat aufzuwachsen? Das kann doch nicht sein! Warum gab es über so viele dieser blöden Erinnerungen niemals einen Streit, sondern ich bin einfach weitergezogen und sitze jetzt, 20 Jahre später, hier und ärgere mich immer noch beim Anblick dieser Leute in ihren hässlichen 90er-Jahre-Klamotten? (Die blöden Fotos aufzuheben, wäre jedenfalls einfacher gewesen. Dann würde ich jetzt nicht hier sitzen und mir den Kopf darüber zerbrechen, was ich denn für eine bin.) Ich sehe Bilder von meinem ersten Freund, mit dem ich sieben Jahre zusammen war, und weiß sofort wieder, wie genervt ich war, als er sich diesen dämlichen Ohrring hat stechen lassen. Ich hasste auch damals schon Schmuck, und er wusste das und hat das einfach machen lassen, als "Überraschung", und war dann beleidigt, als ich das einfach nur grauenvoll fand. Wieso gerate ich bei den Bildern nicht ins Träumen und denke mir, ach, ein feiner Kerl war das? L. spricht nur gut über seine Exfreundinnen und hat ein 1a Verhältnis zu den meisten aus seinem Abijahrgang, wieso ist das bei mir so anders? Warum denke ich gerade darüber nach, den Nachmittag darauf zu verwenden, gemütlich ein paar Jahrgänge Tagebuch durchzulesen und dann feierlich im Ofen zu verbrennen? Ist das meine Art von Schwangeren-Nestbautrieb, weg mit dem ollen Schlonz, jetzt fängt etwas Neues an?

Ich glaube fast, ich mache das. Ich verbrenne ein paar Jahre Langeweile, Dauergenervtheit, runtergeschluckte Kränkungen, doofe Kompromissbekanntschaften und Wurstprobleme, die kein Mensch mehr braucht. Sehen wir's als vorgezogenen Frühjahrsputz. Ich bin gespannt, wie das wird. Und jetzt gehe ich erstmal mit den Hunden eine Stunde durch den Schnee.

5 Kommentare:

  1. Liebe Flora, ich habe im Mai 20-jähriges Abitreffen und ich werde nicht hingehen. Dass ich nicht mehr in der Stadt lebe, in der ich aufgewachsen bin, ist der kleinste Grund. Als die Einladung kam, bin ich in Gedanken durchgegangen, auf wen ich mich freuen würde und habe mit Entsetzen festgestellt, dass kein Name auf meiner Liste landete. Im Gegenteil: ähnlich wie bei Dir entstand ein Sammelsurium aus oberflächlichen Erinnerungen, Kränkungen, die immer noch erstaunlicherweise sehr tief sitzen und "Idioten"-Gedanken. Erst dachte ich, ich will nicht, weil ich beim Haus-Boot-KINDER-Spiel nicht mitspielen kann, aber hey, dieses Spiel habe ich beim 5-Jährigen schon nicht mitspielen WOLLEN und unterm Strich glaube ich, dass ich glücklicher bin als manch einer meiner Schulkollegen mit Haus-Boot-KINDERN. Dementsprechend würde ich mich dieser ganzen Fotowelle durchaus stellen können, will es aber einfach nicht. Parallel dazu hatte mein Mann 25 Jähriges Treffen und ist begeistert hingegangen. Aber vielleicht sind Männer da einfacher gestrickt? Er konnte sich zumindest nicht an die vielen Tussen a là Deiner Astrid, viele kleine Verletzungen und Oberflächlichkeiten erinnern und die wird es in seinem Jahrgang ja wohl auch gegeben haben. Ich habe mich auch gefragt, was bei mir so anders ist. Wenn ALLE außer Einem doof sind, sollte man ja dann doch mal reflektieren :-) Aber ich bin okay. Habe den Mann meines Lebens geheiratet, Kinderwunschtechnisch sind wir noch nicht am Ende, sondern starten im Mai einen neuen Versuch und ich habe ein paar sehr gute Freunde und nette BEkannte. Aber ich bin wählerisch. Und geizig geworden - in Zeitdingen. Ich will meine (Lebens-)zeit so oft wie möglich eben nur mit Menschen verbringen, die es mir wert sind. Das Leben ist einfach zu kurz für Kompromissbekannschaften. Undich ziehe den Hut vor Deinem Wegwerfen. Aber wer los lässt hat die Hände frei! :-)

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  2. Ich halte das für Weiterentwicklung, und damit für etwas grundsätzlich Gutes (natürlich nur, wenn man - wie Du - auch halbwegs zur Selbstreflexion fähig ist).
    Ich kenne nicht wenige Leute, die nach 25 Jahren immer noch mit der identischen Clique herumziehen, immer noch gemeinsam den gleichen Hobbies nachgehen, die gleichen Themen besprechen und die mich, bei gelegentlichen zufälligen Treffen, ganz strafend ansehen, weil ich irgendwann nicht mehr "dabei" sein wollte.
    Da bin ich aber mittlerweile ganz entspannt - ich halte die zwar nicht alle für Nullen, bin aber trotzdem froh, mich in eine andere Richtung weiterentwickelt zu haben. Alles andere würde sich anfühlen wie das Feststecken in einer Zeitschleife ohne erkennbare Vorwärtsbewegung.
    Sich "auseinanderleben" kann doch auch was ganz Positives sein, oder?

    meint Jo

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    1. Sehr treffend gesagt, kann mich dem nur anschließen. Sehr schön, das mit der "Zeitschleife ohne erkennbare Vorwärtsbewegung". Genauso ist es!

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  3. Es ist wohl die Zeit dafür jetzt, da wir hier vermutlich alle irgendwie im selben Alter sind. Bei mir kam vor 2 Monaten auch eine Einladung zum 20jährigen Abi, aber genau wie beim 10jährigen zieht mich aber auch gar nix dahin. Ok, lebe in einem anderen Land jetzt, müßte eine Woche auf der Arbeit freinehmen, also ein großer logistischer und finanzieller Aufwand für Leute, mit denen ich auch damals so gar nix gemeinsam hatte? Die mich für die Dinge, die ich damals tat (Geige spielen, lesen...) ausgegrenzt haben? Und das dann hinterher, als sie sahen, dass ich das tatsächlich zum Beruf machte , dann auf einmal ganz cool fanden? Och nö.
    Erschreckend auch, was einem Facebook manchmal präsentiert. Da bekam ich doch vor 2 Tagen einen friend request von einem, der mich jahrelang gemobbt hat. Friend? Wirklich? Wie schön, dass man das jetzt so wunderbar "ignorieren" kann. Aber interessant, wie lang mich das diese Wochenende beschäftigt hat!
    Scheint aber tatsächlich eine Frauensache zu sein. Denn mein Bruder z.B. zählt noch immer seine Abischulkameraden zu seinen besten Freunden.

    Ach was, wenn´s damals nicht gut war, wieso sich jetzt damit beschweren. Es war doch nur eine zufällig zusammengewürfelte Masse von Kids. Eigentlich gut, anders als alle anderen gewesen zu sein. Das hat zwar damals so gar nicht geholfen, aber hätten wir, z.B. Du und ich, irgendwas anders machen wollen damals, abgesehen vielleicht von sich zu sehr drüber ärgern? Nö, nicht wirklich, oder?
    Also, Ausmisten ist prima und geniessen, wie klasse wir das jetzt haben, mit unseren Traummännern, Deinem Würmchen, ich mit meinem Auswandern usw.!
    Einen schönen Wochenanfang!

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  4. Ich kann auch nicht wirklich mehr was mit den Leuten aus der Schulzeit anfangen. Ich glaube das liegt aber auch daran, dass man in der Gegenwart von Leuten von früher automatisch zu derjenigen wird, die man damals war. Und welche selbstbewußte Frau über 30 will den das schon?
    Wer will denn schon wieder zu dem pickelgesichtigen schüchternen verunsicherten 16 jährigen Ding mutieren?

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