Freitag, 9. Oktober 2009

Soll und Ist

Soll:
Der Tag beginnt morgens um acht, wenn sich eins meiner vier niedlichen Kinderchen in seinem Schlafanzug auf nackten Sohlen taps-taps-taps ins Schlafzimmer geschlichen hat und sich zwischen uns kuschelt. Wie niedlich! Und so kalte Füßchen! Aus Richtung der Küche hört man leises Gekicher und Gescharre, denn die Geschwisterchen wollen es sich nicht nehmen lassen, Mama zum Aufstehen mit einer Tasse Tee und einem Frühstücksei zu überraschen. Seufzend drehe ich mich um und sauge tief den Geruch frisch gewaschener Kinderhaare ein: hoffentlich lassen die kleinen Rackerchen das Ei nicht wieder zu lange kochen? Und hier kommt auch schon die kleine Prozession mit meiner traditionellen Im-Bett-Teetasse. Hm, köstlich, niemand macht so leckeren Earl Grey wie meine Kinder! Nach der ersten Tasse heißt es nun aber endgültig raus aus den Federn, mein Job wartet. Also duschen, Haare waschen, anziehen. Zum Glück keine große Sache, denn in meiner Firma haben alle einen derartigen Respekt vor meiner Leistung und meiner beeindruckenden Persönlichkeit, dass Schminken oder Schickmachen völlig unnötig ist. Ich könnte auch im Baströckchen da auflaufen, und trotzdem würden mir alle zuhören. Für Baströckchen ist es aber ein bisschen zu kalt, über Nacht ist der erste Schnee gefallen, und die Welt draußen glitzert magisch und weiß. In meinen ollen Stiefeln und der Jacke meiner Oma geht es also aufs Fahrrad, Schnee knirscht unter den Reifen, wie durch Zauberei habe ich jeden Radweg und jede Straße für mich. In der Firma angekommen heißt es erst mal die Mails mit den neuesten Erfolgsmeldungen lesen, dazwischen die wie immer zum totlachen lustigen Mails meiner Mädchen. Hihi, und wie süß, hier kommt schon das erste Handyfoto des Tages von L: die Kinder in ihren Pudelmützen, bereit zum ersten Schneetag des Jahres! Jetzt muss ich doch kurz seufzen. Wer da dabei sein könnte! Und noch vor vier Jahren war daran nicht zu denken, ich war voll in meiner IVF-Mühle gefangen und habe mich kaum getraut, ernsthaft zu hoffen, dass das was wird - nur nicht zu sehr enttäuscht werden, war damals das oberste Ziel! Und nun sieh sich jemand diese prächtige Familie an! Mein attraktiver und warmherziger Assistent steht in der Tür und hat das Foto auch gesehen, als er mir meinen Kaffee (jetzt ja wieder eimerweise erlaubt) hinstellt. "Ach, Flora" sagt er. "Die letzten Wochen waren hart. Wir haben geschuftet wie die Tiere - aber jetzt, wo alles unter Dach und Fach ist, willst du nicht einen Tag frei nehmen? Niemand hätte es mehr verdient als du! Ab in den Schnee mit deinen Kindern, oder? Ich halte hier die Stellung!" Ich starre ihn überrascht an: einen Tag ohne meinen inspirierenden, aufregenden und erfüllenden Job? Aber wieso eigentlich nicht? Im Nu bin ich auf dem Heimweg und komme gerade rechtzeitig in der gleichzeitig zentral und ruhig gelegenen Wohnung an, um den Abmarsch der Pudelmützenbande nicht zu verpassen. Und so geht das immer weiter, Kinderlachen, Niedlichkeiten bis zum Abwinken, Abends lesen wir "Die kleine Raupe Nimmersatt" vor, irgendwann kommt dann noch ein Hund dazu, der 20 Jahre alt wird und immer gut riecht, und das schlimmste Ereignis des Jahres ist, wenn eins der Kinder die Läuse aus dem Kindergarten mitbringt. Wenn Sorgen, dann nur niedliche Sorgen. So jedenfalls sieht der Soll-Zustand aus.

Ist:
Keine Kinder. Kein Hund. Kein Job. Keine Erfolgs-Emails. Keine Antwort vom Don. Der nächste Zyklus vermutlich weiter weg als gedacht. Erfolgswahrscheinlichkeit laut Tabelle zum Heulen gering. Grrrrrrr.

Schnittmenge zwischen Soll und Ist:
Ich habe L., ein Fahrrad, eine Pudelmütze, mein altes "Die kleine Raupe Nimmersatt", und Earl Grey hatte ich heute morgen auch. Es könnte also schlimmer sein.

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