Mittwoch, 28. Oktober 2009

Was das mit Estrifam zu tun haben soll, weiß der Himmel

Vor langer, langer Zeit, als ich noch studiert habe, und das war in der Zeit vor Rucolasalat, also lange her - da gab es mal eine Figur, die nannte ich den Peinlichkeitsmenschen. Der Peinlichkeitsmensch war ein älterer Student, der sich aber noch in so ziemlich jeder anderen Hinsicht außer dem Alter von mir unterschied. Er schwitzte nie. Er rannte auch nie. Er trug im Hochsommer Tweedjackets, und dabei glänzte noch nicht mal seine Nase. Er verhaspelte sich nie, er wurde niemals rot, er war kein Mensch. Wir beschlossen, dass er ein Cyborg war. Der Peinlichkeitsmensch hieß nicht so, weil er peinlich war, sondern weil mir irgendwann klar wurde, dass dieses Scheusal an Korrektheit nur um die Ecke biegen musste, damit mir die peinlichsten Dinge passierten, genau vor seiner ungerührten Nase. Und er lachte noch nicht mal drüber, so unmenschlich war er.
Einmal leitete er eine Untersuchung, an der ich teilnehmen musste. Mittendrin in dem kleinen Versuchskämmerchen, in dem nur er und ich saßen, ließ ich laut einen krachen, weil ich so konzentriert bei der Sache gewesen war, dass ich es nicht kommen gemerkt hatte. Er verzog keine Miene, stand nur auf und öffnete wortlos das Fenster. Das war der Anfang. Beim nächsten Mal wollte ich gerade mit Schwung meine Jacke in einen großen Bibliotheksspind hängen, als plötzlich der Aufhänger abriss und ich mitsamt meinem Bücherstapel, einer Einkaufstüte und einem Pappbecher Kaffee unter Riesengetöse in den Schrank fiel, der nur ungefähr halb so breit wie ich war. Ich kam nicht wieder raus, überall war Mehlstaub (aus der Einkaufstüte) und Kaffee (aus dem Becher). Als ich mich endlich befreit hatte, war das erste, was ich sah, der Peinlichkeitsmensch. Wieder ein anderes Mal lief ich nichts Böses denkend in der Nähe unserer Fakultät durch die Stadt, als direkt vor mir ein Kind an seinem Eisstiel knabberte, abrutschte und mir - flatsch - das halbgeschmolzene Eis mitten ins Gesicht schnickte. Und wer ging wohl direkt hinter dem Kind?
Eine Woche später lief ich gerade in einer Seminarpause in Richtung Bäckerei, da fiel mir aus heiterem Himmel ein, dass ich mein randvolles Portemonnaie im nicht abgeschlossenen Seminarraum liegen gelassen hatte. Ich hab mich so schnell auf dem Absatz umgedreht, dass ich im hohen Bogen und ohne von außen erkennbaren Grund mitten auf die Straße gefallen bin. Auf der anderen Straßenseite stand der Peinlichkeitsmensch und hob die Augenbraue. Zu diesem Zeitpunkt dachten die meisten meiner Freunde schon, ich wäre verrückt oder müsste mir ja scheinbar solchen Quatsch ausdenken, nur um unbedingt im Mittelpunkt zu stehen. Aber ich konnte ganz ruhig bleiben, denn ich wusste: dieser Fluch ist stark genug, jeder von euch wird mindestens einmal direkt danebenstehen, wenn er zuschlägt. Und ich hatte Recht. Mein Lieblingsmitbewohner z.B. musste Babysitten, und ich besuchte die drei auf dem Spielplatz. Wir rauchten gemütlich unsere erste Vormittagszigarette zusammen. (Das waren die 90er, verrückte Zeiten - man konnte sich MITTEN AUF DEM SPIELPLATZ eine Zigarette anzünden und wurde dafür nicht mit Blicken getötet, stellt euch vor!) Mir wurde schwummerig, und BAUZ! fiel ich über den Ausläufer eines Klettergerüstes. Mein Mitbewohner war besorgt: "Oh Gott, Flora, hast du dir wehgetan?" Der Chor der Hauptschulkinder, der gerade vorbeilief, echote hämisch "Oh Gott, Floooora, hast du dir weeeeeh getaaaaan?" Und das erste, was ich sah, als sich die Sternchen vor meinen Augen verzogen, war der Peinlichkeitsmensch. "Siehst du, siehst du?" Ich musste meine Geschichten nie wieder anzweifeln lassen.

Nennt es Zufall, nennt es Peinlichkeitskarma. Das ist zum Glück Jahre her, und ich bin weit weggezogen, und ich wache nur noch selten schreiend auf, wenn mir der Pups im Versuchsraum einfällt oder die Sache mit dem Bauchplatscher vor der Bäckerei. Dafür habe ich inzwischen eine neue Sorte mieses Karma: das kleine Nerv-Karma. Im Moment passiert fast im Stundentakt irgend ein Mist. Es ist nie schlimm, und vermutlich gibt es Leute, denen es schon ihr ganzes Leben lang jeden Tag so geht. Die tun mir leid, ich weiß nicht, woher sie die Kraft nehmen, jeden Morgen wieder aufzustehen und festzustellen, dass die Zahnpasta alle ist und jemand ihre Zeitung geklaut hat. Gestern z.B. sind innerhalb weniger Stunden erst das WLAN und dann gleich das komplette Internet ausgefallen. Heute war ich vergeblich auf zwei Behörden, wo sich herausstellte, dass die letzten acht Behördenbesuche für die Katz waren, weil mir mein letzter Berater scheinbar nur Blödsinn erzählt hat. Und ich hasse Behördenbesuche so, so, so sehr, dass mir jeder einzelne dieser acht Besuche den jeweiligen Tag versaut hat und den Tag davor gleich dazu. Ich rufe meinen ehemaligen Steuerberater an und bitte ihn, meinem neuen Steuerberater irgendwelchen Kram zu schicken. Er verspricht es fröhlich, ich lege genau so fröhlich auf, und zehn Tage später stelle ich fest, dass nichts dergleichen passiert ist und die fraglichen Papiere - kein Mensch weiß, wieso - nicht mehr zu finden sind. Post verschwindet, Nachrichten werden nicht ausgerichtet, Sachbearbeiter fahren zum Sabbatical nach Asien, alles, was ich anpacke, wird zu Mist. Dazu kommt auch noch, dass ich im Moment dieses degradierte Leben einer Bargeldlosen UND Kartenlosen führe, denn meine EC-Karte ist wegen der Füchse aus Südafrika gesperrt, die neue ist noch nicht da, von der Kreditkarte weiß ich keine PIN (wie jeder normale Mensch, aber andere Leute haben immer noch die andere Karte), und so muss ich jetzt für jedes Stück Butter in den stinkfeinen Supermarkt außerhalb meines Viertels, wo man ab 1 Euro mit Kreditkarte zahlen kann, und ansonsten demütigenderweise dauernd L. um Bargeld anhauen. Das Leben macht sofort nur noch halb so viel Spaß, das kann ich euch versichern. Und drumherum summen die kleinen Missgeschicke wie Schmeißfliegen. Klopapier alle, in die Pfütze getreten, Adressbuch verloren, Passwort vergessen, "Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten aufgrund dieser vorübergehenden technischen Störung", Milch sauer, Spliss und Bauchweh, gerade kriegt der Lack wirklich Kratzer. Ich hatte in der letzten Woche keinen Platten am Rad, aber ich wette hier und jetzt, das wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und wenn es passiert, dann werde ich gerade weit, weit weg von zuhause sein und außerdem weit weg von jeder UBahn-Station, und während mir das klar wird, wird es anfangen zu schütten. Ich habe diesmal den unangenehmen Fremden noch nicht ausmachen können, der an all dem Schuld ist. Aber mir schwant, dass ich es vielleicht ja selbst bin. Ich bin mein eigener Unglücksbringer geworden. Es ist gruselig. ("Eine Frau hat schon das Ticket für den Bus in der Hand, da fährt er ihr vor der Nase weg. Später erfährt sie, dass auf der Fahrt absolut nichts vorgefallen ist, sondern alle nur pünktlich und wohlbehalten ans Ziel gekommen sind. Zufall? Oder waren höhere Mächte im Spiel? Willkommen in der Twilight-Zone." )

Ich weiß bisher noch nichts von den vielen, sicherlich spektakulären Nebenwirkungen von Estrifam, die ich ja demnächst einnehmen werde. Aber es wäre doch nett, wenn in der ganzen langen Liste auch irgendwo auftauchen würde, dass mit solchen mistigen und unnötigen Karma-Verwirbelungen dann auch gleich Schluss ist. (Guck, da schreibe ich nun ein halbes Diktatheft voll mit Gemaule über frühere und aktuelle Missgeschicke, die absolut nichts, aber auch gar nichts mit IVF, Kinderlosigkeit oder einem ähnlichen Thema zu tun haben. Aber am Ende hab ich mich doch immerhin bemüht, noch die Kurve zu kriegen. Das kann man jetzt reichlich fadenscheinig und peinlich finden. Aber versucht hab ichs! Und jetzt geh ich in die Küche, verbrenne mir die Finger und lasse ein Glas Honig fallen.)

3 Kommentare:

  1. wenn estrifam nur im mindesten so wirkt wie progynova dann viel spaß ;-) ich hab mich in der ganzen kiwu-zeit selten schlimmer gefühlt ;-)

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  2. Hey, jetzt mal ganz ehrlich, du beobachtest doch heimlich mein Leben und schreibst das hier auf, oder? ;-)

    Mal wieder ein sehr gelungener Eintrag!

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  3. Ich liebe deinen Humor! Ich hab Tränen gelacht. Dankeschön!
    Ich bin froh, dass es noch einen Menschen gibt, auf dem dieser schreckliche Peinlichkeitsfluch liegt. Ich glaube ja, das sind höhere Mächte, wie Puppenspieler sozusagen, die sich einen Spaß erlauben. Denn wenn ich ganz alleine bin und keiner guckt, passiert abolut nichts!
    Ich wette, dir geht es genauso, oder?

    LG, Jey

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