Die Mutter meines Vaters war der ängstlichste Mensch der Welt. Jede noch so harmlose Situation konnte in ihrem dicken, wirren Kopf sofort in eine Katastrophe umschlagen. Bei jedem Abschied brach sie in Tränen aus aus Angst vor Autounfällen. Ich weiß nicht, wie oft sie mir eingeschärft hat, ich dürfte nicht mit Fremden ins Auto steigen, auch wenn sie Schokolade hätten. Ist gut, Oma. Wenn es Hühnchen gab (und sie machte das beste Hühnchen der Welt), schaute sie mit angstgeweiteten Augen panisch um sich, weil sie Angst hatte, eins von uns Kindern würde den spitzen Knochen am Hähnchenschenkel verschlucken und daran ersticken. Sie kam sogar ins Schwitzen, wenn ich in ihrem Rührfix Sahne schlagen durfte, lief händeringend um mich herum und japste „Aber keine Butter machen! Keine Butter machen!“ Egal, wie gemütlich und nett man es gerade hatte, ihr Kopf war immer ausgerichtet auf die Katastrophe, die in der nahen Zukunft lauern könnte (und die nie kam. Weder die Butter, noch der Knochen, noch der Schokoladenmann, noch der Autounfall.)
Diese Oma vertrat die Theorie, im Winter dürfte man auch im Haus nicht zu warm angezogen sein, denn wenn man später nach draußen gehen würde, dann würde man draußen nach der Wärme drinnen noch mehr frieren und sich eine Lungenentzündung holen. Eine Lungenentzündung. Drunter tat sie es nicht.
Den dicken, wirren Kopf habe ich von ihr geerbt. Die Angst besser nicht.
Jeden Morgen wache ich auf, frage mich kurz, ob wohl gleich diese berühmte Morgenübelkeit einsetzt (bisher noch nicht), flitze aufs Klo, um zu gucken, ob ich immer noch nicht blute und die kleine Wurst verliere, und dann freue ich mich. Ungefähr fünf Minuten lang und so doll, dass es weh tut. Und dann setzt die Bremse ein. Besser nicht zu früh freuen, könnte ja noch alles Mögliche schief gehen, und dann?
Nun ist die Frage: wenn man die Gefahr bedenkt, nach Riesenfreude ganz, ganz tief zu fallen, wann ist diese Gefahr vorbei? Nach drei Monaten? Nach einer Fruchtwasseruntersuchung? Aber auch nach fünf Monaten kann noch was schiefgehen! Und wie! Also nach der Geburt, wenn das Kind gesund und niedlich und vor allem DA ist? Aber was ist mit plötzlichem Kindstod? Oder was mit schlimmen Kinderkrankheiten, Autounfällen, Schlittschuhfahren auf unsicherem Gewässer, Hühnerknochen, dem schwarzen Mann? Darf ich mich entspannen und freuen in dem Moment, in dem die Wurst 18 wird und aus dem Gröbsten raus ist? Wieso soll ich stundenlang schlotternd vor Kälte auf dem Sofa sitzen, um mich hinterher in den fünf Minuten an der Bushaltestelle nicht zu verkühlen?
So geht das nicht. So kann ich nicht leben, und ich glaube auch nicht, dass das funktioniert. Wenn ich das Baby verlieren sollte, bin ich traurig. Und vorher ängstlich gewesen zu sein oder mir die Vorfreude zu verkneifen, würde daran überhaupt nichts ändern. Bestimmt hilft es, wenn ich im schlimmsten Fall nicht kistenweise Babykram in den Keller räumen muss. Aber es hilft nicht, vorher wochenlang sorgenvoll aus dem Fenster in den Regen zu starren. Das kann ich hinterher immer noch. Zu einer Zeit, von der ich später denken werde (das weiß ich schon genau): da hättest du eigentlich zum Platzen glücklich sein müssen. Nach den ganzen Wochen und Monaten mit IVF, in denen du dich am Riemen gerissen hast, hast du jetzt etwas, von dem du manchmal schon geglaubt hast, dass es nie passiert.
So. Wo sind diese Wunderkerzen und Knallfrösche, die von Silvester noch übrig waren?
invisible apple cake
vor 3 Tagen
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